Mittwoch, 25. November 2009

graugelb

Ich spüre, wie ich langsam aufwache. Ich öffne die Augen, ich bin wieder einmal auf deinem Bahnhof.
Über mir ertasten sich die strengen, schwarzen Blöcke der Bahnhofsuhr. Überholt und zurückgelassen verharrt der Kürzere von ihnen. Fünf Minuten. Nur noch fünf Minuten bis elf. Ob ich es dieses Mal schaffen werde?
Ich starre auf die beiden Zeiger, verfolge mit zusammengekniffenen Augen ihre Bewegungen.
Gestern musste ich an dich denken. Das passierte einfach so. Es war unausweichlich, dessen bin ich mir sicher.
Ich starrte auf die drei Worte. Da waren sie, ohne dass ich nach ihnen gefragt hätte. Sie thronten erhaben auf ihrem blauen Untergrund einer postkartengroßen Pappkarte. Rechts von ihnen versprach der angepriesene Rückenmassagestab entspannte Stunden. Lockte mit dem Versprechen, ein Besuch der hiesigen Einkaufskette führe direkt ohne Umwege zu dem eigenen Selbst. Wie lachhaft, erschien mir dieses abgegrabbelte Prospekt auf unserer Briefkastenreihe. 19,95€. Daneben stand noch immer die blaue Pappkarte. „Du brauchst Zeit.“ Die drei Worte schwebten auf ihrem Hintergrund trotz, oder wegen, ihrer Eindringlichkeit.
„Du brauchst Zeit.“ Mehr sagten sie nicht. Warum auch? Alles wurde damit erklärt. Ihre Klarheit kotzte mich an. Genau wie dieser alberne Rückenmassagestab, mit deren Einkauf du gleichzeitig eine Zauberkugel erstehen würdest. Eine Zauberkugel direkt zu deinem Seelenglück.
Ich starrte bewegungslos. Oben, im ersten OG fragte eine Mädchenstimme „Wann machen wir endlich Pfannkuchen?“ Du brauchst Zeit. Auch darauf hatte die Karte eine Antwort.
Jetzt war es soweit. Genau Elf Uhr. Der kürzere Zeiger hatte es nicht mehr geschafft seinen Rivalen einzuholen. Ich ging zurück auf den Bahnsteig um auf deine Ankunft zu warten.
Ich hatte keine Zeit mehr. Und brauchte sie auch nicht. Als erstes sah ich die rote Lok, das Zugführerabteil. Langsam bahnten sich die restlichen Waggons ihren Weg in mein Blickfeld. Ich erkannte dich sofort an deiner schräg sitzenden Zugführermütze. Du hattest mir immer erklärt, wie albern du dir damit vorkamst. Eine Uniform, die ohne Rücksicht auf deinen etwas zu groß geratenen Kopf, sich nicht um deinen lächerlichen Anblick scherte. Ich verharrte einen kurzen Augenblick neben der Informationstafel der deutschen Bahn. Links standen auf einem gelben Plakat die Abfahrtszeiten der Züge. Rechts, die Ankunftszeiten. Auf grauem Papier. Gelb für Abfahren. Grau wie ankommen.

Hui

Gestern lief Hui zum ersten Mal ohne seinen Vater die Straße vor seinem Haus entlang. Über seiner rechten Schulter wippte in unregelmäßigen Zügen der Beutel, den sein Vater am Vorabend zurecht gepackt hatte. Seit zwei Wochen lebten sie nun schon hier draußen am Rand der Stadt, die in ihrer Größe und Erhabenheit nichts mit seiner Heimat gemeinsam hatte. Ihm fehlten die großen Türme. Die, die ihm das Gefühl einer unermüdlich wachsamen Schutzarmee gaben. 44m². Langhansstraße 9. Zum ersten Mal besaß Hui ein eigenes Zimmer. Manchmal blickte er auf die Berge seiner Raufasertapete, so lange bis er das Gefühl hat, durch sie hindurch zu dringen.
Mit dem Beutel an seiner Schultern bog er am Ende der Straße in den kleinen Park. Die Tapete schob sich zwischen seine Sicht, statt der zerfallenen Imbissbude und der Parkbank, sah er weiß. Seine Lippen formten die passenden Worte zu seinem Blick. Raufaser. Zugekleistert Arme und Beine, ließen ihn bewegungslos auf die Bank neben der Imbissbude fallen.
Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann sein Magen aufgehört hatte, sich an ihm festzubeißen. Er hat gelernt die Schmerzen zu zukleistern, nun fing er an sie zu vermissen. Du musst dich auf einen Ort einlassen und ertasten, wie er dich formt. Zu einem Teilstück macht. Sein Vater log ihn nicht an mit seinen Ratschlägen, er behandelte ihn wie einen Wegbegleiter, nicht einen Sohn.
Der Duft von frischem Zitronengras wühlte sich durch seine Nase. Auf seiner Raufaserschicht erschien seine Mutter in der Küche, die faserigen Stangen schälend. Das Wasser köchelte in einem alten Blechtopf, jeden Abend.
Der frische Duft stand in jedem Zimmer der dunklen Wohnung. Er hing in den Wänden und schäle sich von den Vorhängen, die mit jedem Windzug eine neue Nuance ins Zimmer ließen. Dort saß ihm sein Vater auf dem Fußboden gegenüber. Erklärte ihm in langen Sätzen, wie schön es in Deutschland sein wird. Wie viel Raum sie haben werden. Endlich Luft zum Atmen. Ein eigenes Auto auf der Straße. Luft in der Wohnung. Er erklärte ihm nicht, dass damit auch der Duft des faserigen Zitronengrases verschwinden würde.
Hui fragte sich, ob sein Vater sich nicht manchmal wünschte, selbst zu Luft zu werden. Hui biss sich fest in den alten Vorhängen.
Er griff in seinen Beutel auf der Parkbank den Grund ertastend. 2 Stangen hatte er noch. Behutsam zog er die äußerste Faserschicht, sich dem Kern nährend ab. Der Duft strömte durch seine Nasenhöhlen. Zum Schluss höhlte er den kernigen Innenraum aus. Nun hatte er etwas, das da ist.
Ein Loch in seiner Tapete und ein Fernrohr das zurück zu seiner Heimat führte.

Kontaktladen

Ich spüre, wie ich langsam aufwache. Ich öffne die Auge, ich bin inmitten von Regalen. Links und Rechts von mir Gläser, Plastikverpackungen, Kartons, Tetrapacks. Vorne ein Fenster, vor meinem Gesicht der müde Schein einer einzelnen Straßenlaterne. Ich lasse meine Pupillen sich weiten und blicke mich um, sehe die Laterne mit steter Mühe den Schriftzug der Scheibe hinter mir an die Wand werfen, gebrochen durch meinem Schatten. Ich und die Wand teilen sich die Worte: Supermarkt.
Ich bewege meine Zehen, einen, den zweiten, öffne meine Fäuste, höre kein Hauch, kein Atmen, im fahlen Schein der Laterne bloß Verpackungen und in mir bloß ein Ruf, ein lockender, auffordernder Ruf, der sich in Schreibschrift durch die Regale schängelt: Kauf dich glücklich.
Meine Pupillen tasten durch die Dämmerung und suchen Vertrautes, suchen Markennamen, Produktbeschreibungen, Werbeslogans, Obst. Finden bloß Schreibschrift, diese Schreibschrift, die sich durch die Regale zieht, auf allen Verpackungen, handgemalt, wer gibt sich denn bloß solche Mühe?
Ein bisschen Schwung ist immer gleich, einige Worte haben sie alle gemein: Mindesthalt­barkeits­datum, lese ich, und Zutaten, das ist vertraut, das kenne ich, aber die Zeit, die Zeit hinter dem Mindesthaltbarkeitsdatum heißt eine Nacht oder zwei Monate, als wüsste der Absender nicht, dass es ein Datum ist, eben ein Datum und keine zwei Monate, als wäre der Produzent ein Kind oder Gott oder beides, als wäre er zu klein oder zu groß für Regeln. Und die Zutaten, die Zutaten sind ich oder nicht ich, sind menschlich, sind Lachen oder Begabung für Mathematik oder Treue oder Bart oder ein bepunkteter Slip.
Ich klopfe mich ab, kalter Staub rieselt herunter, ich gehe durch die Regalreihen, nehme ein Glas auf, es ist leicht, nehme einen Karton hinzu, er wiegt fast nichts, aber zusammen werde sie schwer, so schwer, dass ich eines hinstellen muss, beides kann ich nicht tragen. Drehe den Karton herum, hinten in der Schreibschrit: Nebenwirkungen. Unglück, steht da, und Appetitlosigkeit, Selbstzweifel steht auf dem Glas und Langeweile auf der Tüte daneben. Der hier, der gefällt mir, der kleine, schlichte, weiße Karton, Zutaten Idealismus, Eigensinn, ein bedrucktes T-Shirt, aber Haltbarkeit, ja die Haltbarkeit bloß ein Wochenende und die Uhr läuft rückwärts, sobald ich den Karton berühre. Die Tüte daneben, ähnliche Worte, dieselbe Schrift, Eigensinn ist kleingeschrieben und „zwei Monate“ leuchtet auf der Verpackung, aber sie ist teuer, viel zu teuer, der Preis geht über mein Herz hinaus und niemand ist da, der mir sagen kann, we viel ich investieren sollte.
Glas, denke ich, Glas ist gut weil recyclen, das geht schnell, Glas ist durchsichtig und wiederverschliebar, lässt sich nicht zerdrücken und fordert die Aufmerksamkeit mit seiner harten Kühle und Schwere, ich will ein Glas mit dicken Wänden. Beginne zu lesen, jedes einzelne Glas, halte eines in den Händen, und während ich es noch lese verändert es sich, gebiert das Etikett lauter neue Worte, wie der Himmel es tut mit den Sternen, schaut man lange genug hin, und dann, ja dann könnten die anderen Gläser ja auch und hätten und da sind so viele, so viele.
Und wie ich noch stehe und zweifle und das Glas in meiner Hand immer neue und neue Worte gebiert, tanzt sein Haltbarkeitsdatum auf dem Etikett und da verflüssigt sich mein Geld und rinnt an meinem Bein entlang, und das Tesa löst sich ab und der Ruf in mir verabschiedet sich behände und fliegt von einem Windhauch getragen durch die geschlossene Scheibe.
Meine Beine werden schwer, die Müdigkeit lässt mich einknicken, ich weiß nicht zuwenig und nicht zuviel, nur, dass ich irgendetwas falsch gemacht habe und morgen in meinem Bett aufwachen werde, der Schein der Straßenlaternen auf meinen glasleeren Regalen, und dass das falsch ist, so ganz falsch, und bevor ich die Augen schließe und der Kontaktladen mich in die Schwere des Schlafs entlässt, legt sich ein letzter Gedanke in meinen Kopf, mit Schreibschrift geschrieben:
Ich bin wohl immer noch allein.

Freitag, 20. November 2009

Scherben

Da sitzt ein dicker Alter am Damm. Da wo Bärtige Gemüsenamen schreien. Er hat sich eingehüllt in Dreck und Lärm auf einer Bank; die Hose fleckig, den Bauch auf die Knie gelegt.

Zu seinen Füßen Glasscherben.

Er greift nach einer, die einmal Boden war, so dick und rund, legt sie zwischen die Finger und hält sie gegen das Tageslicht, dann vor sein linkes Auge, das rechte zusammen gekniffen.

Dahinter: nur noch neblige Gestalten und sein Auge wird tausend – tausendfach vergrößert davor und das übrige ist nur noch ein Stück rohes Fleisch.

Ich zerfalle in tausend Stücke. Kehre die Scherben unter meinem Bett hervor. Versuche mich darin zu sehen. Aber mein Ich ist tausend, nun tausend Scherben. In jeder nur ein Bruchteil Ich.

Sei einzig, sei tausend.

Und tausend Scherben schiebt der dicke Alte unter der Bank mit den Füßen zusammen. Man hört das Schaben nicht im Lärm, das Geräusch von bewegtem Glas auf Asphalt.

Das tausendfache Auge begleitet mich mit jedem unsicheren Schritt durch die Straßen und überall, wo ich hinschaue, nur verschwommenes Auge hinter Glas.

Ich kehre die Scherben zusammen vor meinem Bett. Es kratzt gewaltig auf den nackten Holzdielen und in meinen Ohren. Will nicht mehr hören. Nicht mehr hören und nicht mehr sehen. Nicht mehr hören und nicht mehr sehen, das tausendfache Auge.

Ein Bärtiger schreit nicht mehr Gemüsenamen, schreit es fort, das rohe Stück Fleisch, scheucht es auf von seiner Bank: seine Bank, seine Bank, meine Bank!

Scher dich zum Teufel und Glas fällt auf Stein, geräuschlos im Getöse des Straßenlärms. Das Stück Fleisch verschwindet hinter der nächsten Straßenecke und lässt die Scherben zurück, das Auge, das Tausendfache.

Sei einzig, sei tausend, sei tausend Stücke.

Und Ich ist nun tausend Scherben unter einer Bank am Damm, eingehüllt in Lärm und Dreck.

Leben in der Pappschachtel

Da springt einer über die Gitarrenseiten und lässt sie schnurren – er spielt wie der Teufel mit seinen neun Jahren, nun fast schon besser als der Großvater, seine Wangen glühen wie Kohlen und die schwarzen Augen glänzen im schwachen Licht. Mein Cousin, denkt sie und wirft den Kopf hin und her, klopft den Takt in den weichen Plastikboden mit bunten Linien, schwarz und grün, gelb und blau, grün, grasgrün und kein Gras, keine Erde. Die Melodie fliegt von Ecke zu Ecke, kein Himmel, kein Feuer, nur wir, in einer Pappschachtel. Die Luft ist heiß und stickig, es riecht nach Schweiß, nach Menschen und bewegten Körpern. Da stehen welche im Kreis um den jungen Teufel und werfen ihre Glieder hin und her, in die stickige Luft. Sie tanzen wie wild und einer schnalzt mit der Zunge.
Die Frauen haben ihr Haar in bunte Tücher gewickelt und die Handgelenke in Gold, manche von ihnen auch die Zähne. Dann blitzen und funkeln die Gebisse unter der schwachen Beleuchtung in der Halle, die eigentlich eine Turnhalle ist. An den Enden sind Netze aufgespannt, dass müssen die Tore sein und an den Seiten Stangen, um in die Höhe zu klettern, in den Himmel. Aber da ist kein Himmel, nur eine Decke, die schimmelig aussieht.
Sie trägt kein Tuch und auch kein Gold, hat die Haare kurz geschnitten. Wie ein Junge, das sagt die Mutter. Sie trägt keine langen Röcke und sieht den Himmel nicht, nicht die Weite. Wir spielen uns in einem Pappkarton, aber das ist nicht richtig. Das geht nicht in einem Karton. Es fehlen die Sterne und das Feuer, der Geruch nach Verbranntem und das Knacken, wenn der Saft aus dem Holz flieht. Sie kann nicht tanzen und hat die Melodien vergessen – sie sagt: Sinti, ich bin Sinti und kein Roma, aber wir sprechen dieselbe Sprache. Es ist eine Sprache, die sie fast gänzlich vergessen hat, hier in der Pappschachtel und dann, wenn sie die Schachtel verlässt, durch immer mehr Schachteln stolpert. Manchmal, wenn sie durch die Häuserschluchten läuft, dann ist sie eine Fremde zwischen all dem Beton und sehnt sich nach bunten Tüchern und der Wagenburg, den Melodien.
Lasko schlägt ihr auf die Schulter, ein bisschen zu viel und sie zuckt zusammen, reißt eine geballte Faust in die Luft und geht in Deckung. Dann sieht sie die lustigen schwarzen Augen, die lachen – lachen sie sie aus? – und sagt: Idiot. Er lässt sich auf den freien Stuhl neben ihr fallen, streckt die Füße aus und verschränkt die Arme im Nacken. Warum so schreckhaft, Cousinchen? Hier sind nur Freunde, wir sind es. Wir, das ist die Familie; die Sinti und auch die Roma, denn die sprechen dieselbe Sprache. In der Pappschachtel sind sie eins. Sie schaut um sich, sieht schwarze Augenpaare in erhitzten Gesichtern, von bunten Tüchern umhüllt. Lasko zieht an ihrer Hand und auf einmal ist sie zwischen den Augenpaaren verschwunden.
Der Morgen ist kalt und sie hat sich ein Tuch umgebunden, das wärmt so schön, läuft über Asphalt und durch Betonschachteln in die Stadt hinein. Von Weitem schon sieht sie die Alte da sitzen auf der Treppe, die kalten Hände kneten. Jeden Morgen sitzt sie so und summt eine Melodie, die sie selbst längst vergessen hat. Die Melodie ist tot, es bleiben nur noch schräge Töne. Die Alte hat sich eingehüllt in Dreck und Decken und schiefe Töne. Heiß wird es und der Asphalt fängt an zu tanzen. Das ist nicht richtig, nicht so, nicht ich. Ich? Sie reißt das Tuch vom Kopf und stopft es in den Beutel. Der Wind bläst so gewaltig, dass sich ihre kurzen Haare aufstellen und mit dem Wind tanzen. Den Blick zum Boden gesenkt geht sie vorüber an der Alten. Sie will nicht den großen traurigen Augen begegnen. Sie sind schwarz. Sie sind wie ihre. Sie will die tote Melodie nicht hören, die nun nicht mehr ist als schiefe Töne und sagt DuIchDuIchDuIch und nie Wir.

Klangkörper

Die Menschen laufen durch den Schacht und ich mit ihnen. Sie laufen schneller, sie laufen nach Hause, sie laufen ins Nirgendwo. Da sitzt ein Mann an die Mauer gedrückt mit seinem Akkordeon im Schoß und klagt und singt. Die Berliner bleiben schnell, unbeeindruckt laufen sie an dem Alten vorüber, schlagen vielleicht kurz einen Bogen, um nicht in sein Klagelied zu rennen, in den alten klapprigen Stuhl und die dreckige Mütze mit bronzenen Münzen. Kein guter Fang heute Nacht. Das Klackern der Absätze auf Beton hallt durch den erleuchteten Schlauch, 10-fach macht es klack, klack, klack, klack, klack, klack, klack, klack, klack, klack. Nein, tausendfach und jeder Mensch spielt einen anderen Ton und doch sind alle gleich, verschwinden in einem einzigen Klangkörper und vermischen sich mit dem Seufzen des Akkordeons. Menschenmusik im Schacht, Menschenmusik auf den Straßen, in den Städten dieser Welt und immer bleibt sie gleich, überall, wo Menschen sind.

Sie sind blass, tragen sie weiße Masken? Oder lösen sich die Masken vom morgen langsam auf, kommen jetzt die echten Menschengesichter, die gequälten? Hat der Tag sie abgewaschen? Ich mache klick und ihr macht klack, ich laufe mit euch durch diesen Schacht, aber spiele gegen euch an. Ich schaue durch die Reste der Masken hindurch und sehe euer rohes Fleisch darunter, sehe wie das Blut langsam fließt durch eure Adern. Ein Glück, ihr lebt noch. Ihr stoßt in meine Seite von rechts, von links, stoßt mit euren eilenden Armen in meinen Bauch, meine Brust. Dann seid ihr gewiss, dass ihr noch lebt. Lasst und Menschenmusik spielen, ich mache klick und ihr macht klack. Aber ihr wollt das klick nicht hören und ich verschwinde im klack-klack-klack, ich löse mich auf unter euch, unter euren Füßen. Wo wollt ihr denn hin? Da fliegt eine Taube gegen die Decke, sie hat sich verirrt und findet den Weg nicht mehr, sie möchte mit ihrem Bauch den Himmel streicheln, aber da ist kein Himmel, nur grauer Beton und sie wird müde. An der Wand klebt buntes Papier, das verspricht: Alles ist gut. Wir finden für jedes Problem eine Lösung. Wir können heilen. Wir sind Wunderheiler. Und wenn ihr uns nur Geld gebt, dann geben wir euch zu Fressen. Dann werden eure Bäuche wachsen in den Himmel und ihr werdet den Himmel streicheln mit euren voll gefressenen Wänsten. Der Mensch hat in die falsche Richtung gebaut, immer tiefer in die Erde und die Luft wird stickig und dünn. Werden wir so lange bauen bis wir ersticken?

Das Gleis der Bahn liegt vor mir, braun und rostig, dazwischen zerbrochene Kiesel, die haben gelitten mit den Jahren. Jetzt warten sie bis sie zu Staub zerfallen und der rollende Zug sie wieder ans Tageslicht spült, der Mond auf sie herunter lacht bei Nacht. Bleibt stehen, für eine Sekunde und seht mich an so wie ich euch ansehe. Bleibt stehen und spielt ein anderes Lied, ein neues Lied. Lasst uns Menschenmusik machen. Klick, klack - - - - - -. Hört auf den Alten, lauscht dem Seufzen des Akkordeons, haltet ein, nur eine Minute, eine Sekunde.

Im Schatten unter der Bank klebt ein weißes Stück und mit dem einrollenden Zug löst es sich und treibt durch die Luft, segelt über die Köpfe, vorbei an den Masken und landet zu meinen Füßen, neben ausgespucktem Kaugummi und Zigarettenstummeln. Ich bücke mich nicht, breche nicht mein Kreuz, werde nicht lesen, was da steht, klein und schwarz. Und tue es doch.

Lasst uns Menschenmusik machen, rufe ich in den Waggon, sehe die müden Augenpaare, die sich an mich heften, rufe, lasst uns spielen, Menschenmusik spielen. Reißt euch die Maskenreste vom Gesicht! Der Zug poltert aus dem Bahnhof. Er schmeißt mich von Ecke zu Ecke und es muss aussehen als tanzte ich beim Sprechen. Gut. Gut auch, dass ihr mich endlich seht. Seht mich an, ich trage euch ein Gedicht vor, breche es aus mir heraus.

Zerbrochene Kiesel der Tage
Unter den Bäumen der Nacht
Aber die Tiere des Abends irren und rufen
Arme Tiere meines länger werdenden Abends
Ich will sie streicheln
Aber sie sind scheu

Klick, klack - - - - - -

Tod und Leben schaukeln auf gleichen Schalen
Das Älterwerden ist ein Wind an der Waage
Eine müde Fliege
Die summt durch die Netze des Südens:
„Zieh deine Summe
Nutze die nutzlose Zeit

Klick, klack - - - - - -

Benetze die Zunge die dir im Mund verdorrt
Geh drei Schritt zurück und warte auf des Züngleins Wort“
Nur die unnützen Fliegen
Summen und schwirren

Klick, klack - - - - - -

Nur die Tiere des Abends rufen und irren
Unter den Bäumen der Nacht
Bei den Kieseln der Tage auf der Waage
Zwischen Leben und Tod

Hört ihr, was ich euch sagen will? Versteht ihr, ihr müden Fliegen? Wir treiben an die Oberfläche und bald schon sind die Lichter der Stadt unter uns, dem Himmel bald ganz nah. Endlich.

wirmichduuns

KREISLERN

WM

Dazwischen

neben einander leben

Wir sollten nicht nebeneinander leben.
Ich schaue rechts und links und geradeaus und unter und über dich und sehe mein Leben, sehe mich in allen deinen Möglichkeiten und sitze dir gegenüber und laufe neben dir und denke: Wir sollten wirklich nicht nebeneinander leben.

Da geht einer und verliert ein paar Kilos. Da geht einer und verliert ein paar Haare. Da geht einer und verliert sein Unglück. Da gehst du und sammelst alles auf. Und ich sehe dich an und muss schmunzeln und denke
dass du dicklich und haarich und unglücklich aussiehst wie ich.

Da sitzen zwei Rücken an Rücken und strampeln durch das Leben. Zwei sitzen und schauen in entgegengesetzte Richtungen in ein eintöniges Blau und irgendwo am Horziont schimmert eine ferne Möglichkeit des Gelbs, oder Schwarzs, oder Rots. Und zwei bemerken es gleichzeitig und fangen aus vollsten Kräften an zu trampeln und bewegen sich nicht, nichts bewegt sich außer ihre Rücken und die dehnen sich nur schmerzhaft entzwei. Und ich drehe mich um und mustere dich und denke
dass wir zu viel blau machen und schwarz malen und rot sehen miteinander.

Da nimmt einer sein Herz und legt es auf die Straße, und der andere passt auf. Da weht dir der Geruch von frischem Backfett in die Nase und deine Füße tragen dich bloß Milimeter an meiner roten blutigen Masse vorbei zum Bäcker und gelbes glühendes Mehl in dich hinein. Da siehst du durch die Scheibe, wie einer durch mein Herz latscht und es tut dir plötzlich weh, über dem vollen Magen. Und ich blicke dich an in deiner Gier und mit deiner Herzlosigkeit und denke
dass ich nun herzlos bin und dich schmerzlos und scherzlos verachte.

Da tanzen zwei zu afrikanischen Rhytmen. Der eine trommelt monoton und der andere bewegt seinen Arsch und es ist wie Sex oder auch nicht denn beim Sex würde keiner von ihnen kommen und der Arsch fährt eine Milimetersekunde zu spät zur Seite und die Trommel eine Milimetersekunde zu früh in den Beat und der Hut vor uns bleibt leer und Passanten blicken uns an und finden uns peinlich, und ich blicke dich an mit deiner Trommel und deinem bewegungslosen Arsch und denke
dass wir uns nicht fassen dann hassen dann sein lassen und im falschen Rhythmus.

Da sitzen zwei Penner am Bahnhof und teilen sich ihr Brötchen und beide sind voll mit Locken und von dem einen hängt das Auge. Einer leckt mit der Zunge über den Senf auf dem Pappteller und der hält inne in seiner Dipbewegung und beschwert sich. Und ich gehe ich den Wald und schieße ein Reh und sage Bitte, in das Blut kannst du dippen, wenn du willst. Und dem fragenden Schaffner erzähle ich von Rehpest und meine Hose ist grün und du dippst dein Brötchen in das Reh und da sehen sie dass es nicht verpestet ist und ich werde verhaftet und du musst mitkommen und im Gefängnis treten sie uns und bespucken uns und unsere Freunde schauen kopfschüttelnd von außen zu. Und ich blicke dich an mit deinem blutverschmierten Maul und deinen bläulichen Rippen und denke
dass zwei Verräter sich gegenseitig zum Staatsfeind machen.

Und baumle an einer schweren Eisenkette im bodenleeren deckenlosen Raum und warte darauf, dass die Kette sich irgendwann löst oder der Adler kommt, wenigstens endlich der Adler kommt und ein wennig von mir nascht, dann könnte ich ihn fragen, dann hätte ich endlich eine objektive Meinung dazu, wo du eigentlich aufhörst und ich beginne.

Das große Sie

Das Mittel zum Reüssieren:
Reduzieren!
Reduzieren Sie das Mittel,
reduzieren Sie sich
reduzieren Sie
die Angriffsfläche –
Das ist anständiges Benehmen!

Anständig
Benehmen,
das ist Oberfläche,
das ist heute,
das ist
Lebensmittel.
Lassen Sie das Mittel
reduzieren
und dann gären,
dann reüssieren
dann gelten
Sie.

Doch vor dem Gären
fragen Sie
Woher kommt der Wind?
und stapeln Sie
in der richtigen Ecke,
sonst fällt das Kartenhaus
ein, denn seine
Mittel sind reduziert.

Trugbilder

Ein lebensrettend Brunnen
So vorbildlich gebaut

Mit einem oben drauf
Der in die Ferne schaut

Und sieht der mit scharfem Blick
Das Trugbild in der Ferne

Das Trugbild unter seinen Füßen
Das sieht er nicht so gerne

Tauschhandel

Ene mene muh und raus bist...

Tritt näher mein Kind
Ich lade zum Tausch
Die Unschuld deiner selbst
Wird nunmehr berauscht
Vom forschesten Drang dein Glück zu erkunden

Als Tauschwert verlange ich
Nicht mehr als nichts
Solange du mir nur heilig versprichst
Dein Glück werde scheinen als Hellstes unter deinen

Plug and play 1

Ich schreibe

Ich schreie nicht
Ich schreibe

Dabei wäre es so leicht zu schreien
Aber gleichzeitig so feige


Menschen schreien um etwas so
schnell
und so
weit
wie möglich von sich wegzuschleudern


Ich schreibe damit es mir
aus wenigen Zentimetern Entfernung
direkt in die Augen starrt

Feng Shui

Es ist einfach verrückt

Alles auf einmal so verrückt

Es wäre aber schade es wieder zurückzustellen

Das Blatt Papier

Das Blatt Papier
So scharfkantig
Der Rand und jede Ecke ein kompromissloser Sprung
Vom Chaos und Rauschen drumherum in ein unbeflecktes weißes Tor.

Ein Tor zu einer Reise in 1000km Entfernung
Oder 1000 Jahre zurück in der Zeit
Oder in die Zukunft.
Oder 1000 Schranken durchbrechen und landen am gefährlichsten Ort der Welt
In dir selbst.

Donnerstag, 12. November 2009

Warum

„Hä“ denkt sich Steffi, als sie ihren Briefkasten öffnet. „Ein loser
zusammengefalteter Zettel?!“ „Jetzt machen sich die Werbefuzzis auch
noch die Mühe die Zettel in der Mitte einmal umzuknicken?!“ Sie wird
neugierig und will wissen von welcher Firma diese aufwendige
Werbung stammt, die sie gleich neben sich in den Papierkorb
schmeißen will. Den Papierkorb hat ein netter Nachbar in weiser
Voraussicht für solche Zwecke neben die Briefkästen gestellt. Steffi
klemmt die restlichen Briefe unter ihren Ellenbogen und öffnet mit den
Fingerspitzen den sorgfältig zusammengelegten Zettel. Was sie dann
sieht verwundert sie ein bisschen. Die äußere Form des darauf
stehenden Textes scheint ein Gedicht zu sein. „Was auch immer für
Werbung in diesem Gedicht stecken wird“, denkt sie, „es scheint als
habe sich jemand viel Mühe gegeben möglichst originell zu werben“.
Bei soviel Anstrengung der Werbefuzzis beschließt sie sich die Zeit zu
nehmen, um das Werbegedicht zu lesen. Doch zuerst hebt sie ein Bein
nach dem anderen die Treppenstufen nach oben vor ihre
Wohnungstür, öffnet diese und schließt sie wieder, schmeißt die Briefe
auf den Schreibtisch und wirft sich selbst aufs Sofa. Dann hebt sie
den Zettel in die Höhe richtet ihren Kopf auf und versichert sich noch
einmal lauschend, dass die Fenster geschlossen sind, so dass der
Hinterhof sie nicht hören kann, wie sie laut betonend ihren
Zimmerpflanzen das Werbegedicht vortragen wird. Sie holt noch mal
tief Luft, richtet ihre grünen Augen auf die ersten Zeilen und fängt an
zu lesen:
Warum
Nicht du
um der Liebe willen
sondern
um deinetwillen
die Liebe
(und auch
um meinetwillen)
Nicht
weil ich lieben
muß
sondern weil ich
dich
lieben
muß
Sie stockt und wird leiser, denn sie sieht, dass das Gedicht beinahe
schon am Ende ist und es ihr bisher noch überhaupt nicht nach
Werbung klang.
Vielleicht
weil ich bin
wie ich bin
aber sicher
weil du
bist
wie du bist
„Hä“ stößt sie aus. Viel geht ihr plötzlich durch den Sinn. 1000
Gedanken und Möglichkeiten tun sich innerhalb weniger Sekunden in
ihrem Kopf auf. Sie formuliert sie nicht aus, sie denkt sie nur
Stichpunktartig und durcheinander: Von „worin steckt hier Werbung“
bis „wer ist mein heimlicher Verehrer“ über „warum sollte mich
Michael so verarschen“ zu „wer will mich werben“ und „es gibt ja zwei
Maiers in diesem Haus, bestimmt ist das Gedicht eigentlich für die
Nachbarin im 4ten Stock“ und noch viel mehr. Noch lange nicht sind
alle Möglichkeiten dieses Irrtums, der vielleicht doch keiner ist zu
Ende gedacht, da beschließt sie das Gedicht erneut ihren
Zimmerpflanzen vorzutragen. Diesmal etwas feinfühliger und
bestimmender und in heimlichem Gedanken daran, dass Timo, der
Typ aus dem Statistikseminar, mit dem süßen Lächeln, der ihr in ihrer
Einbildung schon ein paar Mal zugezwinkert hat, sich die Mühe
gemacht hatte sie nach dem Unterricht heimlich zu verfolgen, um
herauszukriegen wo sie wohnt, so dass er ihr dann heimlich das
Gedicht in den Briefkasten stecken konnte, nachdem er erst noch
warten musste bis einer der Nachbarn nach Hause kam und die Tür in
den Hof aufgeschlossen hatte.
Warum
Nicht du
um der Liebe willen
sondern
um deinetwillen
die Liebe
(und auch
um meinetwillen)
Nicht
weil ich lieben
muß
sondern weil ich
dich
lieben
muß
Vielleicht
weil ich bin
wie ich bin
aber sicher
weil du
bist
wie du bist
Sie lässt sich zurückfallen in die Kissen, die das Sofa schmücken, und
seufzt zufrieden, schließt ihre grünen Augen und beginnt zu träumen.
Zu träumen von dem, was sie weiß, dass nicht der Wirklichkeit
entspricht. Aber die Phantasie lässt sie selig sein und das tut ihr gut,
also erfreut sie sich an dem Traum auf dem Sofa schlummernd mit
dem Beweis der Tatsächlichkeit in ihren Händen. Egal sind plötzlich
alle Möglichkeiten des Zufalls, die ihr diesen Zettel in den Briefkasten
gebracht haben. Wichtig ist gerade nur der Augenblick der
Glückseligkeit, den sie in vollen Zügen mit einem
Honigkuchenpfedgrinsen auf dem federweichen Wolkenmeer genießt.

Vorhang auf

Es gibt Momente die gehen an mir vorbei als gäbe es sie gar nicht...gibt es viele
davon? Weiß ich nicht...frag doch den Pförtner, der führt Buch darüber, über diese
Momente. Er ist der, der die Vorhänge zuzieht und nur noch vereinzelt die
wichtigsten Geräusche und Regungen hereinlässt. Diese selige Ruhe! Was würde
ich nur ohne ihn machen?
Rot, rot, rote Bluse, rotes Gesicht, lautes rot-Hartnackschule, gelb, happy hour,
jetzt einsteigen-“Weis-ch, weich-sbieeer,...bianco, blablabla-ragazza-trallalalala“-
Trainingsanzug, Turnschuhe, schwarz, dunkler Blick- „Bin zur Gymnastik, danach
im Garten, Rosmarie-Scheibe zerkratzt, Brandenburgertor draufgedruckt, noch eins
kopfüber, auf der Seite, eins, zwei, drei,...
aaaahhhhh Pförtner Hiiilfe...STILLE....
Mein Gesicht entspannt. Ein Zugang, ein Fenster nach dem anderen wird
zugezogen. Mein Gesicht erstarrt im Standby-Modus. Wie im Nebel wabern die
Gestalten nun um mich herum. Zeichnen ihre verschwommenen Konturen als
Schatten in mein Zimmer....
Klopf, Klopf...
eine bezaubernde Gestalt tritt aus dem Nebel...versucht sich den Weg an meinen
Füssen vorbei zum Ausgang zu bahnen. War das ein Lächeln ? ehe ich es ahnen
kann, schlagen die Türen hinter ihr zu und ich nehm ihr Bild mit in mein Zimmer.
Die Vorhänge werden noch dichter gezogen und ich suche einen Platz in meinem
immer an dem ich das Bild aufstellen kann,
Klopf, Klopf...
oh umsteigen. Die Tür geht auf und vor mir...Grauer Mantel, Graue Hose,
Schwarze Bluse-T-Shirt, Dreitagebart, Umhängetasche- Kinderwagen, blau,
verwaschen---aaahhh Pförtner...STILLE...
auf dem Weg vor mir liegt eine sichtbar leuchtende Linie die mich durch die Gänge
zu meinem Zug führt...ich starre sie an und folge ihr.
Klopf,Klopf...
Der nächste Zug fährt ein und die Türen gehen auf. Bierbauch-knappes t-shirt-
Gitarre, Pappbecher, Brille- Jeans, helle Bluse, ein leichtes Tuch, langes lockiges
blondes Haar...war das nicht? nein.
aaaaahhh Pförtner Hiiilfe...STILLE...
Vor mir zeichnet sich ein sichtbar leuchtende Linie ab...ich gehe ihr nach und
gelange so an den Gestalten vorbei in den Zug.
Klopf, Klopf...
ein Zettel liegt auf meinem Platz. Weiß, unaufdringlich weiß. Ich frag den Pförtner
aber der hat auch nichts mehr zu sagen...der liegt halt so da der weiße Zettel. Ich
nehm ihn und setz mich. Ich falte ihn auseinander. Ein bekanntes Gefühl. Raues
weißes Papier mit einer scharfen Kante dort wo es geknickt ist. Es steht was drauf...
Küchentischgespräch
Zwischen Besteck und Geschirr
Reste von Unterhaltung
Umschreibungen Gähne Geplänkel
geflügelte Worte
Aber sie fliegen nicht
Nichts schwingt sich auf und davon
Der Vogel hüpft fort von mir
und kauert unter dem Ausguß
Wenn ich tot wäre
wollte ich hämmern
an deine
verriegelte Welt
Wenn ich wieder
geboren wäre
dich finden
und zu dir sprechen
Aber ich lebe
und meine Worte reichen
nicht bis zu dir
und fallen unter den Tisch
Ich sitze da mit zugezogenen Vorhängen und lese...Um mich herum ist es still und
dunkel. Nichts dringt zu mir rein. Ich lese und mit jeder Zeile verlier ich mehr und
mehr die Orientierung. Hier in meinen vier Wänden. Ist das möglich? Hier wo ich
mich eingerichtet habe, wo ich für mich bin sollte ich doch für alles eine Erklärung
haben. Der Pförtner zieht die Vorhänge auf und ich sehe...
Eine Frau, vielleicht mitte dreißig. Sie hat auch einen Zettel in der Hand und liest.
Ob da dasselbe steht? Die ist bestimmt genauso verdutzt wie ich.
Schräg gegenüber ein Pärchen vielleicht mitte zwanzig. Sie kichern ein wenig beim
lesen. Sie trägt einen leichten weißen Pulli mit V-Ausschnitt und eine Jeans. Sie hat
einen braunen Teint, pechschwarze Haare und ihre braunen Augen werden von
einem nach außen spitz zulaufendem Rahmen verengt. Sie kommt wohl aus Japan
oder so. Ihr Freund ist groß und blond und trägt seine Frisur als wenn er kurz
vorher noch den Kopf aus dem fahrenden Zug gehalten hätte. Er ist sicher
Deutscher. Sie spricht auch perfektes deutsch. Ob sie hier geboren wurde?
Der Mann neben mir scheint etwas unbeholfen. Er ist sicher schon in Rente. Seine
braune Schiebermütze deckt sein graues Haar ab. Es war sicher mal schwarz. Er hat
auch ein Blatt Papier vor sich und hält es fest in der Hand. An seiner linken Hand
baumelt eine kurze Kette. Ich glaube es ist eine Gebetskette. Ich versuche auf sein
Blatt zu schielen um zu sehen ob bei ihm dasselbe draufsteht. Er bemerkt es und
sagt zu mir: „Das ist ein Gedicht...wie schön! Ich habe viele Gedichte gelesen aber
auf türkisch. Ein Gedicht..haha!“ Ich lache auch mein Gesicht entspannt sich. Ich
schaue mich um uns beobachte die Menschen wie sie alle orientierungslos ein Blatt
Papier vor sich halten.
Heute Abend bevor ich schlafen gehe, werde ich den Pförtner bitten ein wenig
umzuräumen.

Lyrische Stadtepisoden

bssssssssssss – katckerkatackerkatacker – uuuiiiiiiiiiiiiiiiiuuuiiiiiiiiiiiiiiiiiiuuuiiiiiiiiiiiiiiuu – tackertacker – bssssssssssssssss – uiiiiiiiiiiuu

Da bin ich. Meine Geburt hat nur einige Sekunden gedauert, aber ich habe schon seit Wochen gespürt, wie mein Schöpfer mit mir schwanger ging. In dieser Zeit habe ich mich oft verändert: Zunächst war ich nur ein vages Gemisch aus Eindrücken und Gefühlen, die von Zeit zu Zeit durch seinen Kopf huschten, zwischen anderen, weniger starken hindurch. Doch irgendwann bin ich ihm aufgefallen. Vielleicht hat ihn meine Signalfarbe zu verlockend angestrahlt, vielleicht konnte er auch einfach nicht länger leugnen, dass mein Beigeschmack so dominant ist, dass er hinausgespült werden muss, damit er die anderen, die genauso ihren Rang erkämpfen wollen, nicht mehr behindert. Es halt eine Weile gedauert, bis sich die einzelnen Zellen, aus denen ich als Fötus bestand und die doch alle aus derselben Grundsubstanz hervorgingen, sich zu einem Körper fügten und die Differenzierung beginnen konnte, aus der ich schlussendlich hervor wuchs. Aber nun bin ich ein Ganzes, gemacht, um in andere Köpfe zu sickern.

Über mir und unter mir liegen meine Zwillinge: flach sind sie und breit, wie ich, und schneeweiß mit schwarzem Aufdruck auf beiden Seiten. Auf dem Rücken steht eine Äußerlichkeit, aber von vorn kann man unseren Geist erkennen.

Bis zum heutigen Tag waren wir in jeglicher Hinsicht identisch. Aber nun, spüre ich, hat sich etwas verändert. Es muss passiert sein, als diese plötzliche Dunkelheit über uns hereinbrach. Der, der mich hervorbrachte, hat uns alle gepackt und in die Dunkelheit gesteckt. Es roch nach Leder dort und alles hat gewackelt. Dann hat die Geräuschkulisse begonnen, sich zu verändern, jeder Ton war wie abgedämpft und die Geräusche um uns sind keine fünf Sekunden mehr die gleichen geblieben. Am Ende wurde es ganz grell und kalt und plötzlich lag ich allein auf grünem Lederimitat, die glatten Oberflächen meiner Geschwister und der Geruch meines Schöpfers verschwunden.

Jetzt ertönt ein gedehntes, rhythmisches Quäken und ich verrutsche ein wenig, als das Lederimitat beginnt, sich in Bewegung zu setzen. Als es anhält, rutsche ich zurück. Nun kommen mehrere Luftzüge hintereinander, die mich ein wenig aufflattern lassen. Dann wird es wieder dunkel und ich spüre rauen, geriffelten Baumwollstoff auf mir, nur das gedämpfte Signal und leichtes, gleichmäßiges Ruckeln lassen mich ahnen, dass das Ding, wir wieder fahren. Einige Zeit, nachdem die Jeans sich entfernt hat, tritt mein großer Moment ein: Jemand nimmt mich hoch und legt müde Augen auf mich, erst auf den Rücken, dann auf meine Vorderseite. Die Augen gehören einem Mann mit grünen Latzhosen. Seine Hände sind rau von der Arbeit und sobald er meine ersten Zeilen überflogen hat, bildet sich eine kleine Falte auf seiner Stirn. Er beginnt von vorn:

> Ich liebe dich bei Nebel und bei Nacht,

wenn deine Linien ineinanderschwimmen, –

zumal bei Nacht, wenn deine Fenster glimmen

und Menschheit dein Gestein lebendig macht.

Was wüst bei Tag, wird rätselvoll im Dunkel;

wie Seelenburgen stehn sie mystisch da,

die Häuserreihn mit ihrem Lichtgefunkel;

und Einheit ahnt, wer sonst nur Vielheit sah.

Der letzte Glanz erlischt in blinden Scheiben;

in feine Schachteln liegt ein Spiel geräumt;

gebändigt ruht ein ungestümes Treiben,

und heilig wird, was so voll Schicksal träumt. <

Die Falten auf seiner Stirn sind mit jedem Vers tiefer geworden. Jetzt schüttelt er den Kopf, dreht mich noch einmal um, zuckt mit den Achseln und legt mich zurück auf die Bank.

> So ein Quatsch! Wer das hier nur liegen gelassen hat? <, denkt er und steigt aus. Aber ich spüre es, bevor er noch den Fuß auf den Bahnsteig gesetzt hat: Ich bin in seinem Kopf!

Während er weiterläuft, verfolge ich seine Gedanken. Sie sind ein buntes Flimmern aus dem Fußballspiel, das er sich gestern im Fernsehen angeschaut hat, den Bestellungen, die er heute für seine Klempnerei aufgeben muss und mir, aus der Schlagzeile über den krebskranken Schlagersänger, die er im Vorübergehen am Kiosk aufgeschnappt hat und mir, seiner Tochter, die nächste Woche diesen Blödmann heiraten will, der Hippie-Frisur des Blödmanns und da bin ich wieder:

> Dem Blödmann hätte das Gedicht bestimmt gefallen. Der ist ja auch so ein Taugenichts, der die Nacht nur kennt von seinen Kneipentouren. Der weiß nicht, dass für anständige Leute leere Straßen und Dunkelheit bedeuten, dass es fünf in der Früh ist und sie zur Arbeit müssen. Und das auch noch bei dieser Hundskälte. Heilig!, dass ich nicht lache. Mein Schlaf ist mir heilig, wenn’s so dunkel ist! Dieser Marcel-Blödmann hat vermutlich... <

Ich hätte gern weiter zugehört, wie er sich in Rage denkt. Vermutlich hätte er das spätestens am Hochzeitstag einen Grund dazu gefunden, aber mir gefällt das Gefühl, etwas in ihm ausgelöst zu haben. In diesem Moment jedoch wischt mich eine neue Hand auf den Boden, ein Fuß schlittert über mich hinweg und ich flattere hoch in die Luft.

„Ey du Spast, bist du behindert?“

Der Junge, der an dem Fuß hängt, der eben auf mir ausgerutscht ist, rappelt sich umständlich wieder hoch und lässt sich auf eine der Bänke fallen.

„Deine Mutter!“, schnappt er nach dem Jungen, der ihm gegenübersitzt und sich scheckig lacht über die Ungeschicklichkeit seines Freundes. An der Seite seiner tief sitzenden weißen Hose und an seinen blauen Sneakers hat der Sturz braungraue Streifen hinterlassen.

„Was’n dis für’n Scheiß?“, fragt der erste und hebt mich auf. Seine Augen bleiben an den ersten Worten hängen. „Isch liiiiebe disch. Haha, ey Spasti, der Zettel liebt disch, Alta!“

„Hä? Deine Mutter!“, sagt der Junge in den weißen Hosen wieder. Er ist immer noch ein wenig rot, wittert aber die Chance, die Aufmerksamkeit von seiner peinlichen Lage zu lenken und reißt mich seinem Freund aus der Hand. „Ey, Nicole, hier, dis hat Ayhan für disch geschrieben.“ Er drückt mich einem blonden Mädchen in die Hand, das ein mattrosa Lipgloss trägt, dessen zuckerwattiger Duft mich umwölkt, sobald sie mich vor ihre dunkel umrandeten Augen hält.

„Was’n dis für’n Scheiß?“, fragt sie und blinzelt abwechselnd Ayhan und die weiße Hose an. Sie lächelt, um ihre Unsicherheit zu überspielen und tut so, als würde sie das Blatt auf die andere Seite des Sitzes legen. Doch als ihre Freunde sich abwenden, überfliegt sie mich unauffällig und ich spüre, wie mit jedem weiteren Vers ihre Enttäuschung wächst: > Geht gar nicht um mich. Hat er gar nicht geschrieben. Idioten. Sowas kann der eh nicht. Wenn er nur... <>

Als sie den Waggon verlässt, hält mich das Mädchen immer noch in der Hand, und ich freue mich darauf, in neuen Kontexten gelesen zu werden. Allerdings wäre es mir lieber, wenn sie mich bald wegschmisse, denn ich könnte ihr vermutlich nicht mehr weiterhelfen, jedes Lesen würde nur wieder die Erinnerung an die morgendlichen Ereignisse in der U-Bahn wachrufen. Eigentlich hat sie auch schon fast vergessen, dass es mich gibt. Erst als sie sich vor dem Schultor eine Zigarette anzünden will, bemerkt sie, dass ihre rechte Hand nicht leer ist. Ich hatte recht: > Scheiß Gedicht! <, denkt sie als sie nur das Papier, auf dem ich stehe, wieder bewusst wahrnimmt. Ich bin wieder frei und segle gemächlich auf das Pflaster, das die ersten Strahlen der Morgensonne schon ein wenig angewärmt haben.

Eine Glocke schrillt und der Boden bebt ein wenig von den Schritten der Jugendlichen, die nun zwischen zwei hoch aufstrebenden, alt-ehrwürdig quietschenden Türflügeln verschwinden. Einige Minuten später ertönt die Klingel erneut und ein Herr Mitte 40 in Blue Jeans, kariertem Hemd und Cordjackett streckt den Kopf aus dem Eingang. Prüfend lässt seinen Blick über den Bürgersteig schweifen – einmal die gegenüberliegende Straßenseite, dann der Gehweg vor der Schule und erst, als er sich überzeugt hat, dass auch hinter der Tür, im Bereich außerhalb seines Sichtfelds, keine Zuspätkommer sich verschanzt haben, um noch schnell eine zu rauchen, bemerkt er, dass ich mich zu seinen Füßen sonne. Er sieht, dass ich ein Gedicht bin und Erstaunen breitet sich aus auf seinem gutmütigen, etwas fahlen Gesicht. Jeden meiner Verse saugt er ein wie ein Rätsel, windet und wiegt ihn in Gedanken, immer auf der Suche nach Hinweisen, die den Strom von Fragen, der ihm bei meinem Anblick durch den Sinn gerauscht ist, beantworten könnten.

Die wichtigste: > Wer hat das hier verloren? <> Vielleicht ein Kollege? Ein Passant? Oder sogar ein Schüler? <> Vielleicht wollte es ja jemand noch einmal lesen vor dem Unterricht, weil es ihm so gut gefallen hat und es ist ihm aus der Jackentasche gefallen. <> Worum geht es überhaupt in diesem Gedicht? <

Versmaß, Reimschema und die Tatsache, dass die ersten drei Worte wohl die effektivsten sind, wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit des Lesers zu bannen, erfassen seine Adleraugen binnen Sekunden. Er vollzieht den Weg von der Straße in die Seele der Stadt nach, denkt dabei an Früher, als er oft ähnliche Gedanken hatte, wenn er allein durch die Straße schweifte, um nachzudenken. > Damals ... <, seufzt er ein wenig wehmütig und starrt mich an wie ein Reliquium. > Warum mache ich das eigentlich nicht mehr? Warum gehe ich nicht mehr nachts durch die Straßen zum Nachdenken? Das hat doch immer Wunder gewirkt, wenn ich nicht weiter gekommen bin, wenn ... ich mich so gefühlt habe wie jetzt. Das Gedicht hat Recht: Es ist schön, bei Nacht die Menschlichkeit dieser Stadt zu spüren, zu beobachten, wie plötzlich alles ganz einheitlich wird, als würde es in ein und demselben ruhigen Rhythmus atmen. <> Aber das müssen die Schüler doch auch kennen: Die Stadt bei Nacht. Schließlich ziehen die meisten von ihnen doch das ganze Wochenende hindurch zwischen den Kneipen und Discos hin und her. Kein Wunder, dass das Gedicht einem von ihnen so gut gefallen hat, dass er ihn vor dem Unterricht noch einmal lesen wollte. Es holt ihn schließlich genau dort ab, wo man in diesem Alter steht. <, denkt der Lehrer erfreut und beschließt, dass es sich um einen jungen Text handelt. Außerdem sind Versmaß und Reimschema gut erfassbar – was er ja schon auf den ersten Blick festgestellt hatte – und es kommen einige interessante literarische Mittel vor. Er nimmt sich fest vor, mich im Unterricht durchzunehmen. Dann löst er sich vom Türrahmen, nästelt abwesend an seinem Cordjackett und ist zu abgelenkt um zu bemerken, dass er nur meine linke untere Ecke in seine Tasche gesteckt hat. Wie vor einer halben Stunde flattere ich hinab auf das Pflaster und werde noch ein Stück weiter in die Mitte des Bürgersteigs befördert von dem Zug der Flügeltür, die nun mit einem dumpfen Schlag zufällt.

Die nächsten Hände, die mich vom Boden klauben sind wieder rauer als die der Jugendlichen und des Lehrers. Ihre knotigen Knochen, über die sich dünne, äderige Haut spannt, interessieren sich nicht im Geringsten für mein Wesen, das spüre ich sofort. Bevor sie mich zu einer kleinen Kugel knüllen, zieht ein vages Bild von silbergrauen Locken, bunt geblümtem Kittelschürzenstoff und einem gebeugten Rücken an mir vorüber. Dann wird fliege ich durch ein Halbdunkel aus einem ätzenden Gemisch von verschiedensten alten Gerüchen. Durch den Dunst höre ich noch metallen gedämpfte Wortfetzen der alten Frau: „Unmöglich ... einfach auf die Erde ... diese unverschämten ...“ Dann ist auch sie fort.

Ich bin auf etwas weichem, feuchtem gelandet. Es ist unangenehm. Hoffentlich werde ich nicht zu lang hier liegen gelassen, sonst verschwimmt meine Farbe oder das Papier zerfällt. Sekunden vergehen, werden zu Minuten, mehr Minuten, vielleicht Stunden? Ich kann nicht mehr sagen, wie lang ich schon hier liege und warte, wieder gelesen zu werden. Jetzt wäre ich gern altgriechische Schriftrolle in einem archäologischen Archiv. Dann würde ich zwar auch in unbekannten Dunkelheiten vor mich hin dämmern, aber immerhin hätte ich das Schlimmste schon hinter mir und bräuchte keinen baldigen Zerfall mehr fürchten. Um meinen Inhalt bräuchte ich mich dann auch nicht mehr zu sorgen, da meine Transkriptionen vermutlich bereits so häufig gelesen worden wären, dass jedes Kind zumindest mit meinem Namen oder dem meines Schöpfers etwas anfangen könnte. Hoffentlich sind meine Geschwister in umsichtigere Hände gelangt. Sonst wäre alles vergebens gewesen und dabei bin ich, wenn ich das einmal sagen darf, doch ein sehr runder, eingängiger Text. Vielleicht nicht jedermanns Fall, aber doch für jeden, der mich zur Kenntnis nimmt, wenn ich seinen Weg kreuze, etwas.

Von Zeit zu Zeit erklingen wieder metallische Stimmen draußen. Manchmal sind es Passanten und in Regelmäßigen Abständen Schüler, die nach dem gedämpften Läuten der Pausenglocke aus dem Gebäude flüchten. Hinter mir herrscht das beständige hüstelnde Brummen von Autos, die über Kopfsteinpflaster rumpeln.

Nach und nach verschwindet das spärliche, rote Licht, das anfangs noch aus der ovalen Öffnung über mir herab geschienen hat und die vorüber ziehenden Stimmen und Autogeräusche werden seltener. Ich bin mittlerweile fürchterlich klamm und beginne schon zu frieren, als sich schlurfende Schritte nähern, begleitet von leisem, unverständlichem Murmeln. Eine rotgeschundene, schmutzverkrustete Hand erscheint in der Öffnung des Mülleimers, gefolgt von einem trüben Auge. Zu meiner Verwunderung werde ich gegriffen und in eine Jackentasche gesteckt, durch deren Löcher die frische Nachtluft zieht. Die Hand wühlt weiter, Flaschen klirren, Alufolie streift quietschen an der Wand des Mülleimers entlang und Papier raschelt, doch der Penner scheint nichts mehr zu finden und setzt schwankend und schlurfend seinen Weg fort. Der Gestank in seiner Tasche ist schlimmer als der zwischen den Essensresten und kalten Kippen und wärmer ist es hier auch nicht. Fast wünsche ich mich in den Abfall zurück. Was er wohl mit mir vorhat?

Wir halten an und plumpsen ohne viel Federlesen irgendwo auf den Boden. Der Penner zieht mich aus seiner Jacke, glättet mich, knickt mich in der Mitte und legt mich mit dem Rücken nach oben auf sein Knie. Ein braunes, weiches Knäuel landet auf mir. Er nimmt mich hoch und beginnt, mich um den Tabak zu drehen, doch mit einem Mal hält er inne. Er steckt den Tabak in die Tasche, aus der er mich gezogen hat, glättet mich hastig mit einem Erstaunen im Blick, das ihn plötzlich viel lebendiger scheinen lässt, und beginnt zu lesen ...

... liest mich einmal, dann von vorn und auch noch ein drittes Mal. Erst bleiben seine Gedanken hängen an den Worten, die ihm besonders gut gefallen: Fenster glimmen und feine Schachteln, am liebsten mag er die Seelenburgen. Außerdem findet er es schön und sehr passend für ein Stadtgedicht, dass große Begriffe wie Ich liebe dich, mystisch oder Schicksal direkt neben den alltäglichen Häuserreihen, Fenstern und dem ungestümen Treiben stehen. Er legt sich hin, in Gedanken ganz bei mir. Die Worte tragen ihn fort in seine Vergangenheit, erinnern ihn daran, wie er als junger Mann in die Stadt kam und zunächst nur dieses verlockende Ineinanderschwimmen der Linien gesehen hatte und die Lebendigkeit des menschengefluteten Gesteins, wie das ungestüme Treiben ihn irgendwann mitgerissen hatte und er Teil des Schicksals geworden war und wo es ihn schließlich hingetrieben hatte.

> Heute bin ich der, der die Fenster ewig hell und dunkel werden sieht. <, denkt er traurig. > Aber die Nacht und den Nebel liebe ich immer noch. <

Eine Weile schiebt und wälzt und wendet der Mann mich und die Dinge, die ich ihm auf den ersten Blick gesagt hat, im Kopf umher. Dann spüre ich, wie seine Gedanken leiser werden und bruchstückhaft. Schließlich gähnt herzhaft, steckt mich in die linke Innentasche seiner Jacke und schläft ein. Langsam wird mir wärmer.

Lob der Ferne

Einmal fuhr ich im Bus in Buenos Aires und jemand legte mir etwas in den Schoß.
Einmal fuhr ich im Bus ohne Klimaanlage und es war laut und heiß, und der Sitz vor mir
klopfte gegen meine Kniescheibe, als wollte er mich vertreiben. Durch die offene Scheibe
drängten sich fremde Gerüche in meine Nase. Es war kein guter Tag, nein, es war kein
guter Tag und ich dachte, es war kein gutes Land, kein gutes Land in dem man seinen
Geschäftspartner nicht versteht und der Dolmetscher so viel weniger Sätze sagt als der
Partner. Der Dolmetscher dem Partner immer wieder verschmitzt zulächelt und dann die
Schultern zuckt, auf die Frage, was er noch gesagt hat, was der Mann mit den schwarzen
Haaren noch gesagt hat zu meinem Vorschlag. Bloß antwortet: „Spanisch ist nicht
ökonomisch.“
Es ist kein gutes Land, in dem sie sagen: „Wir müssen über Ihr Angebot nachdenken.“
Dann lächeln und sitzen bleiben, während man sich selbst unbeholfen erhebt, seine
Rechnung zahlt und fleisch-und pommesschwer aus dem Restaurant tritt in eine
feindselige Hitze. Sich aus Trotz in den Bus setzt, weil man im unguten Gefühl, gerade
etwas in eine schwammige Fremde verloren zu haben, nicht noch mehr verlieren will, kein
Geld an einen Taxifahrer, bloß dreißig Cent an den Bus.
Und dann kam ein fremder Mann und legte mir ein buntes Zettelchen in den Schoß, und
ich dachte „Sie wollen, immer wollen sie“, und hörte den Mann laut und erhitzt reden und
blickte hochmütig aus dem Fenster. Der Fahrtwind nahm den Zettel mit und warf ihn auf
den Gang, als gehörte er dort hin. Ich dachte „soll er, der wertlose Zettel, soll er doch
liegen im Schmutz“, aber der Zettel wehrte sich gegen den Schmutz und flog weiter, und
der Besitzer des Zettels fluchte und rannte ihm nach, rannte durch den Bus dem Zettel
hinterher. An der nächsten Haltestelle stieg er aus, nachdem er alle Zettel von den
Schößen nahm und keinen Blick bekam und kein Geld. Der Mann stieg aus und warf mir
einen Blick zu, einen Blick voll gebrochener Würde. Und viel später habe ich verstanden,
dass er Lose verkaufte, dass der bunte Zettel auf meinem Schoß ein Los war und damit
wertvoll, viel Geld für einen Mann, der davon lebt, und wenn er ein Los verliert, verliert er
die Einnahmen von einer Stunde und ein Los gehört nicht auf den Boden, nicht auf den
schmutzigen Boden des Busses.
Die argentinische Firma rief mich nie an, nie an oder zurück, und wenn ich an Buenos
Aires dachte, dachte ich an den Blick des Losverkäufers, und wenn das Telefon dann alles
tat außer klingeln, dann dachte ich, denke noch, das habe ich irgendwie verdient.
Der Bus in Berlin ist laut, innerlich laut und stickig denn er hat eine Klimaanlage, und die
Menschen blicken einander an, als sähen sie Steine und keine Menschen, als wäre das
Leben nichts weiter als Mauer. Und dazwischen sitze ich, nun, und der Sitz vor mir klopft
an meine Knie und erinnert mich so, dass ich hier nicht hingehöre, dass mein Leben weit
weg ist aber meine Arbeit eben hier. Und nur wer denkt, die Arbeit wäre sein Leben, der
muss wohl ertragen, dass heimatfremde Sitze an seine Knie pochen. Das denke ich also
und der Sitz pocht. Und auf einmal legt jemand einen gefalteten Zettel in meinen Schoß:
Eine junge Frau, die blickt, in das Gesicht und nicht die Steingesichter, eine junge Frau mit
langen Haaren, die auf einmal fest in das Gesicht blickt und ich fühle mich ertappt, als
hätte mich jemand Fremdes beim Schlafen überrascht. Ich schaue mich um, den langen
Haaren hinterher, wie sie zwei weitere Zettel verteilen, ich such die Augen der Mitfahrer
und sehe den ertappten Blick und dann ein Blick auf den Zettel und dann wieder
Backsteine. Ich warte auf das Mädchen, darauf, dass es die Zettel wieder einsammelt,
aber an der nächsten Haltestelle steigt sie einfach aus, schüttelt ihre Haare und die
Blickbegegnungen ab. Mich hat sie zurückgelassen mit einem fremden Zettel, der
vielleicht etwas wert ist, und einer Erinnerung an den gebrochenen Blick der
Losverkäufers.
Öffnen, lesen, Zeilen, Gedicht. Schulunterricht, das Gefühl, etwas nicht zu begreifen, der
Sitz pocht gegen mein Knie.
„Lob der Ferne“ heißt es, Lob der Ferne und dann aneinander gerreihte Worte, die irgend
jemandem Sinn ergeben und ein paar Menschen in der Welt glauben machen, sie gäben
ihnen Sinn und damit sie gäben ihnen etwas. Ich kann Gedichte nicht leiden, konnte ich
nie, ich will am Ende von Reihen ein Ergebnis und fühle mich falsch, wenn ich es nicht
habe, ich fühle mich dann betrogen und leer und will eine Zahl, oder zwei, die ich dann
addieren kann und dann habe ich wieder Fülle in mir.
Ich blicke mich um und sehe meine Mitfahrer die Zettel zerknüllen, Backsteingesichter,
und sehe meine Hände den Zettel streicheln, die Ferne streicheln und das Meer und den
Fischer und Bilder gibt es in mir, von denen weiß ich nicht einmal, ob es meine sind, oder
die eines elektronischen Apparates. Fischerboote und Wellen und Wasser und der
gebrochene Blick des Losverkäufers und ich mit meiner Leere, die mir eine Frau mit
langen Haaren einfach so aufdrängte. Die ich in mich ließ aus Angst vor einem
gebrochenen Blick, so wie ich Bus fahre, aus Angst vor einem gebrochenen Leben der
Bus von der Arbeit nach Hause, den ich mir leisten kann, weil mein Leben gebrochen ist,
zerbrochen in Bus und Arbeit und Heimat in der Ferne, die irgendjemand lobt.
Als ich jünger war, hätte ich ihr geholfen, die Zettel zu verteilen. Damals zählte die Zeit
nicht so viel, wog nicht schwer, wog nicht münzschwer nach Stundenlohn. Als ich jung
war, tat ich Dinge wie diese und dachte, Heimat ist der am wenigste wertvollste meine
Schätze, und der wertvollste meine Intelligenz, die mich weit weg bringen würde,
irgendwohin. Lob der Ferne. Los der Ferne. Als ich jung war, hatte ich Angst, dass ich mal
enden würde als Losverkäufer in unserem Dorf. Und nun sitze ich im Bus in der
Hauptstadt, fern von meinem Dorf und verkaufe mich und die Knie pochen gegen den Sitz
und ich breche die Würde ausländischer Losverkäufer und jemand bricht mich, indem er
die Ferne lobt.
Plötzlich wünsche ich mir das Meer und einen Klappstuhl, bloß mich und das Meer und
einen Klappstuhl und Sicht auf Fischerboote, einen unmittelbaren Blick, erster Hand, und
in der Hand ein Getränk und in den Ohren das Salz der Luft, das sich dort sammelt, bis ich
nichts mehr höre, und taub will ich weiter sitzen und nichts tun außer darauf zu warten,
dass der Klimawandel mich irgendwann ertränkt.
An der nächsten Haltestelle werde ich aussteigen und den Zettel jemandem in die Hand
drücken. Der Sitz tut mir weh genug, ich fühle die Leere in mir und aufschwappenden
Trotz. Wenn ich den Zettel weiter gebe, ist es eins plus eins und damit eine Kette und eine
Zahl und ein Ergebnis, also los. Ich drücke den Zettel eine Frau mit langen Haaren in die
Hand, um es kreisrund zu machen. Ich rolle die Rolltreppe hoch, und hinter mir ruft es
„hey!“, das Los. Ich drehe mich um und sehe in große Augen, fragende Augen auf
Kinnhöhe, und die Frau reibt ihr Knie und sagt: „Das ist schön, hast du das geschrieben?“,
und ich spüre fern, fern unter meinem Trotz und der Erschöpfung des Tages auf einmal
ein wenig Hoffnung, verschüttet, aber da. Ich will auch mein Knie reiben, das täte ihm gut,
oder ihres, das täte mir gut, irgendwo, ja, vielleicht möchte ich ja ihr Knie reiben und
wusste es bis gerade nicht, weil ich so vieles nicht weiß, und so sage ich: „Ja, das habe
ich geschrieben, gestern.“

Menschenmusik

Die Menschen laufen durch den Schacht und ich mit ihnen. Sie laufen schneller, sie laufen nach Hause, sie laufen ins Nirgendwo. Da sitzt ein Mann an die Mauer gedrückt mit seinem Akkordeon im Schoß und klagt und singt. Die Berliner bleiben schnell, unbeeindruckt laufen sie an dem Alten vorüber, schlagen vielleicht kurz einen Bogen, um nicht in sein Klagelied zu rennen, in den alten klapprigen Stuhl und die dreckige Mütze mit bronzenen Münzen. Kein guter Fang heute Nacht. Das Klackern der Absätze auf Beton hallt durch den erleuchteten Schlauch, 10-fach macht es klack, klack, klack, klack, klack, klack, klack, klack, klack, klack. Nein, tausendfach und jeder Mensch spielt einen anderen Ton und doch sind alle gleich, verschwinden in einem einzigen Klangkörper und vermischen sich mit dem Seufzen des Akkordeons. Menschenmusik im Schacht, Menschenmusik auf den Straßen, in den Städten dieser Welt und immer bleibt sie gleich, überall, wo Menschen sind.

Sie sind blass, tragen sie weiße Masken? Oder lösen sich die Masken vom morgen langsam auf, kommen jetzt die echten Menschengesichter, die gequälten? Hat der Tag sie abgewaschen? Ich mache klick und ihr macht klack, ich laufe mit euch durch diesen Schacht, aber spiele gegen euch an. Ich schaue durch die Reste der Masken hindurch und sehe euer rohes Fleisch darunter, sehe wie das Blut langsam fließt durch eure Adern. Ein Glück, ihr lebt noch. Ihr stoßt in meine Seite von rechts, von links, stoßt mit euren eilenden Armen in meinen Bauch, meine Brust. Dann seid ihr Gewiss, dass ihr noch lebt. Lasst und Menschenmusik spielen, ich mache klick und ihr macht klack. Aber ihr wollt das klick nicht hören und ich verschwinde im klack-klack-klack, ich löse mich auf unter euch, unter euren Füßen. Wo wollt ihr denn hin? Da fliegt eine Taube gegen die Decke, sie hat sich verirrt und findet den Weg nicht mehr, sie möchte mit ihrem Bauch den Himmel streicheln, aber da ist kein Himmel, nur grauer Beton und sie wird müde. An der Wand klebt buntes Papier, das verspricht: Alles ist gut. Wir finden für jedes Problem eine Lösung. Wir können heilen. Wir sind Wunderheiler. Und wenn ihr uns nur Geld gebt, dann geben wir euch zu Fressen. Dann werden eure Bäuche wachsen in den Himmel und ihr werdet den Himmel streicheln mit euren voll gefressenen Wänsten. Der Mensch hat in die falsche Richtung gebaut, immer tiefer in die Erde und die Luft wird stickig und dünn. Werden wir so lange bauen bis wir ersticken?

Das Gleis der Bahn liegt vor mir, braun und rostig, dazwischen zerbrochene Kiesel, die haben gelitten mit den Jahren. Jetzt warten sie bis zu Staub zerfallen und der rollende Zug sie wieder ans Tageslicht spült, der Mond auf sie herunter lacht bei Nacht. Bleibt stehen, für eine Sekunde und seht mich an so wie ich euch ansehe. Bleibt stehen und spielt ein anderes Lied, ein neues Lied. Lasst uns Menschenmusik machen. Klick, klack - - - - - -. Hört auf den Alten, lauscht dem Seufzen des Akkordeons, haltet ein, nur eine Minute, eine Sekunde.

Im Schatten unter der Bank klebt ein weißes Stück und mit dem einrollenden Zug löst es sich und treibt durch die Luft, segelt über die Köpfe, vorbei an den Masken und landet zu meinen Füßen, neben ausgespucktem Kaugummi und Zigarettenstummeln. Ich bücke mich nicht, breche nicht mein Kreuz, werde nicht lesen, was da steht, klein und schwarz. Und tue es doch.

Lasst uns Menschenmusik machen, rufe ich in den Waggon, sehe die müden Augenpaare, die sich an mich heften, rufe, lasst uns spielen, Menschenmusik spielen. Reißt euch die Maskenreste vom Gesicht! Der Zug poltert aus dem Bahnhof. Er schmeißt mich von Ecke zu Ecke und es muss aussehen als tanzte ich beim Sprechen. Gut. Gut auch, dass ihr mich endlich seht. Seht mich an, ich trage euch ein Gedicht vor, breche es aus mir heraus.

Zerbrochene Kiesel der Tage

Unter den Bäumen der Nacht

Aber die Tiere des Abends irren und rufen

Arme Tiere meines länger werdenden Abends

Ich will sie streicheln

Aber sie sind scheu

Klick, klack - - - - - -

Tod und Leben schaukeln auf gleichen Schalen

Das Älterwerden ist ein Wind an der Waage

Eine müde Fliege

Die summt durch die Netze des Südens:

„Zieh deine Summe

Nutze die nutzlose Zeit

Klick, klack - - - - - -

Benetze die Zunge die dir im Mund verdorrt

Geh drei Schritt zurück und warte auf des Züngleins Wort“

Nur die unnützen Fliegen

Summen und schwirren

Klick, klack - - - - - -

Nur die Tiere des Abends rufen und irren

Unter den Bäumen der Nacht

Bei den Kieseln der Tage auf der Waage

Zwischen Leben und Tod

Hört ihr, was ich euch sagen will? Versteht ihr, ihr müden Fliegen? Wir treiben an die Oberfläche und bald schon sind die Lichter der Stadt unter uns, dem Himmel bald ganz nah. Endlich.