Freitag, 20. November 2009

Leben in der Pappschachtel

Da springt einer über die Gitarrenseiten und lässt sie schnurren – er spielt wie der Teufel mit seinen neun Jahren, nun fast schon besser als der Großvater, seine Wangen glühen wie Kohlen und die schwarzen Augen glänzen im schwachen Licht. Mein Cousin, denkt sie und wirft den Kopf hin und her, klopft den Takt in den weichen Plastikboden mit bunten Linien, schwarz und grün, gelb und blau, grün, grasgrün und kein Gras, keine Erde. Die Melodie fliegt von Ecke zu Ecke, kein Himmel, kein Feuer, nur wir, in einer Pappschachtel. Die Luft ist heiß und stickig, es riecht nach Schweiß, nach Menschen und bewegten Körpern. Da stehen welche im Kreis um den jungen Teufel und werfen ihre Glieder hin und her, in die stickige Luft. Sie tanzen wie wild und einer schnalzt mit der Zunge.
Die Frauen haben ihr Haar in bunte Tücher gewickelt und die Handgelenke in Gold, manche von ihnen auch die Zähne. Dann blitzen und funkeln die Gebisse unter der schwachen Beleuchtung in der Halle, die eigentlich eine Turnhalle ist. An den Enden sind Netze aufgespannt, dass müssen die Tore sein und an den Seiten Stangen, um in die Höhe zu klettern, in den Himmel. Aber da ist kein Himmel, nur eine Decke, die schimmelig aussieht.
Sie trägt kein Tuch und auch kein Gold, hat die Haare kurz geschnitten. Wie ein Junge, das sagt die Mutter. Sie trägt keine langen Röcke und sieht den Himmel nicht, nicht die Weite. Wir spielen uns in einem Pappkarton, aber das ist nicht richtig. Das geht nicht in einem Karton. Es fehlen die Sterne und das Feuer, der Geruch nach Verbranntem und das Knacken, wenn der Saft aus dem Holz flieht. Sie kann nicht tanzen und hat die Melodien vergessen – sie sagt: Sinti, ich bin Sinti und kein Roma, aber wir sprechen dieselbe Sprache. Es ist eine Sprache, die sie fast gänzlich vergessen hat, hier in der Pappschachtel und dann, wenn sie die Schachtel verlässt, durch immer mehr Schachteln stolpert. Manchmal, wenn sie durch die Häuserschluchten läuft, dann ist sie eine Fremde zwischen all dem Beton und sehnt sich nach bunten Tüchern und der Wagenburg, den Melodien.
Lasko schlägt ihr auf die Schulter, ein bisschen zu viel und sie zuckt zusammen, reißt eine geballte Faust in die Luft und geht in Deckung. Dann sieht sie die lustigen schwarzen Augen, die lachen – lachen sie sie aus? – und sagt: Idiot. Er lässt sich auf den freien Stuhl neben ihr fallen, streckt die Füße aus und verschränkt die Arme im Nacken. Warum so schreckhaft, Cousinchen? Hier sind nur Freunde, wir sind es. Wir, das ist die Familie; die Sinti und auch die Roma, denn die sprechen dieselbe Sprache. In der Pappschachtel sind sie eins. Sie schaut um sich, sieht schwarze Augenpaare in erhitzten Gesichtern, von bunten Tüchern umhüllt. Lasko zieht an ihrer Hand und auf einmal ist sie zwischen den Augenpaaren verschwunden.
Der Morgen ist kalt und sie hat sich ein Tuch umgebunden, das wärmt so schön, läuft über Asphalt und durch Betonschachteln in die Stadt hinein. Von Weitem schon sieht sie die Alte da sitzen auf der Treppe, die kalten Hände kneten. Jeden Morgen sitzt sie so und summt eine Melodie, die sie selbst längst vergessen hat. Die Melodie ist tot, es bleiben nur noch schräge Töne. Die Alte hat sich eingehüllt in Dreck und Decken und schiefe Töne. Heiß wird es und der Asphalt fängt an zu tanzen. Das ist nicht richtig, nicht so, nicht ich. Ich? Sie reißt das Tuch vom Kopf und stopft es in den Beutel. Der Wind bläst so gewaltig, dass sich ihre kurzen Haare aufstellen und mit dem Wind tanzen. Den Blick zum Boden gesenkt geht sie vorüber an der Alten. Sie will nicht den großen traurigen Augen begegnen. Sie sind schwarz. Sie sind wie ihre. Sie will die tote Melodie nicht hören, die nun nicht mehr ist als schiefe Töne und sagt DuIchDuIchDuIch und nie Wir.

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