Donnerstag, 12. November 2009

Warum

„Hä“ denkt sich Steffi, als sie ihren Briefkasten öffnet. „Ein loser
zusammengefalteter Zettel?!“ „Jetzt machen sich die Werbefuzzis auch
noch die Mühe die Zettel in der Mitte einmal umzuknicken?!“ Sie wird
neugierig und will wissen von welcher Firma diese aufwendige
Werbung stammt, die sie gleich neben sich in den Papierkorb
schmeißen will. Den Papierkorb hat ein netter Nachbar in weiser
Voraussicht für solche Zwecke neben die Briefkästen gestellt. Steffi
klemmt die restlichen Briefe unter ihren Ellenbogen und öffnet mit den
Fingerspitzen den sorgfältig zusammengelegten Zettel. Was sie dann
sieht verwundert sie ein bisschen. Die äußere Form des darauf
stehenden Textes scheint ein Gedicht zu sein. „Was auch immer für
Werbung in diesem Gedicht stecken wird“, denkt sie, „es scheint als
habe sich jemand viel Mühe gegeben möglichst originell zu werben“.
Bei soviel Anstrengung der Werbefuzzis beschließt sie sich die Zeit zu
nehmen, um das Werbegedicht zu lesen. Doch zuerst hebt sie ein Bein
nach dem anderen die Treppenstufen nach oben vor ihre
Wohnungstür, öffnet diese und schließt sie wieder, schmeißt die Briefe
auf den Schreibtisch und wirft sich selbst aufs Sofa. Dann hebt sie
den Zettel in die Höhe richtet ihren Kopf auf und versichert sich noch
einmal lauschend, dass die Fenster geschlossen sind, so dass der
Hinterhof sie nicht hören kann, wie sie laut betonend ihren
Zimmerpflanzen das Werbegedicht vortragen wird. Sie holt noch mal
tief Luft, richtet ihre grünen Augen auf die ersten Zeilen und fängt an
zu lesen:
Warum
Nicht du
um der Liebe willen
sondern
um deinetwillen
die Liebe
(und auch
um meinetwillen)
Nicht
weil ich lieben
muß
sondern weil ich
dich
lieben
muß
Sie stockt und wird leiser, denn sie sieht, dass das Gedicht beinahe
schon am Ende ist und es ihr bisher noch überhaupt nicht nach
Werbung klang.
Vielleicht
weil ich bin
wie ich bin
aber sicher
weil du
bist
wie du bist
„Hä“ stößt sie aus. Viel geht ihr plötzlich durch den Sinn. 1000
Gedanken und Möglichkeiten tun sich innerhalb weniger Sekunden in
ihrem Kopf auf. Sie formuliert sie nicht aus, sie denkt sie nur
Stichpunktartig und durcheinander: Von „worin steckt hier Werbung“
bis „wer ist mein heimlicher Verehrer“ über „warum sollte mich
Michael so verarschen“ zu „wer will mich werben“ und „es gibt ja zwei
Maiers in diesem Haus, bestimmt ist das Gedicht eigentlich für die
Nachbarin im 4ten Stock“ und noch viel mehr. Noch lange nicht sind
alle Möglichkeiten dieses Irrtums, der vielleicht doch keiner ist zu
Ende gedacht, da beschließt sie das Gedicht erneut ihren
Zimmerpflanzen vorzutragen. Diesmal etwas feinfühliger und
bestimmender und in heimlichem Gedanken daran, dass Timo, der
Typ aus dem Statistikseminar, mit dem süßen Lächeln, der ihr in ihrer
Einbildung schon ein paar Mal zugezwinkert hat, sich die Mühe
gemacht hatte sie nach dem Unterricht heimlich zu verfolgen, um
herauszukriegen wo sie wohnt, so dass er ihr dann heimlich das
Gedicht in den Briefkasten stecken konnte, nachdem er erst noch
warten musste bis einer der Nachbarn nach Hause kam und die Tür in
den Hof aufgeschlossen hatte.
Warum
Nicht du
um der Liebe willen
sondern
um deinetwillen
die Liebe
(und auch
um meinetwillen)
Nicht
weil ich lieben
muß
sondern weil ich
dich
lieben
muß
Vielleicht
weil ich bin
wie ich bin
aber sicher
weil du
bist
wie du bist
Sie lässt sich zurückfallen in die Kissen, die das Sofa schmücken, und
seufzt zufrieden, schließt ihre grünen Augen und beginnt zu träumen.
Zu träumen von dem, was sie weiß, dass nicht der Wirklichkeit
entspricht. Aber die Phantasie lässt sie selig sein und das tut ihr gut,
also erfreut sie sich an dem Traum auf dem Sofa schlummernd mit
dem Beweis der Tatsächlichkeit in ihren Händen. Egal sind plötzlich
alle Möglichkeiten des Zufalls, die ihr diesen Zettel in den Briefkasten
gebracht haben. Wichtig ist gerade nur der Augenblick der
Glückseligkeit, den sie in vollen Zügen mit einem
Honigkuchenpfedgrinsen auf dem federweichen Wolkenmeer genießt.

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