Mittwoch, 25. November 2009

graugelb

Ich spüre, wie ich langsam aufwache. Ich öffne die Augen, ich bin wieder einmal auf deinem Bahnhof.
Über mir ertasten sich die strengen, schwarzen Blöcke der Bahnhofsuhr. Überholt und zurückgelassen verharrt der Kürzere von ihnen. Fünf Minuten. Nur noch fünf Minuten bis elf. Ob ich es dieses Mal schaffen werde?
Ich starre auf die beiden Zeiger, verfolge mit zusammengekniffenen Augen ihre Bewegungen.
Gestern musste ich an dich denken. Das passierte einfach so. Es war unausweichlich, dessen bin ich mir sicher.
Ich starrte auf die drei Worte. Da waren sie, ohne dass ich nach ihnen gefragt hätte. Sie thronten erhaben auf ihrem blauen Untergrund einer postkartengroßen Pappkarte. Rechts von ihnen versprach der angepriesene Rückenmassagestab entspannte Stunden. Lockte mit dem Versprechen, ein Besuch der hiesigen Einkaufskette führe direkt ohne Umwege zu dem eigenen Selbst. Wie lachhaft, erschien mir dieses abgegrabbelte Prospekt auf unserer Briefkastenreihe. 19,95€. Daneben stand noch immer die blaue Pappkarte. „Du brauchst Zeit.“ Die drei Worte schwebten auf ihrem Hintergrund trotz, oder wegen, ihrer Eindringlichkeit.
„Du brauchst Zeit.“ Mehr sagten sie nicht. Warum auch? Alles wurde damit erklärt. Ihre Klarheit kotzte mich an. Genau wie dieser alberne Rückenmassagestab, mit deren Einkauf du gleichzeitig eine Zauberkugel erstehen würdest. Eine Zauberkugel direkt zu deinem Seelenglück.
Ich starrte bewegungslos. Oben, im ersten OG fragte eine Mädchenstimme „Wann machen wir endlich Pfannkuchen?“ Du brauchst Zeit. Auch darauf hatte die Karte eine Antwort.
Jetzt war es soweit. Genau Elf Uhr. Der kürzere Zeiger hatte es nicht mehr geschafft seinen Rivalen einzuholen. Ich ging zurück auf den Bahnsteig um auf deine Ankunft zu warten.
Ich hatte keine Zeit mehr. Und brauchte sie auch nicht. Als erstes sah ich die rote Lok, das Zugführerabteil. Langsam bahnten sich die restlichen Waggons ihren Weg in mein Blickfeld. Ich erkannte dich sofort an deiner schräg sitzenden Zugführermütze. Du hattest mir immer erklärt, wie albern du dir damit vorkamst. Eine Uniform, die ohne Rücksicht auf deinen etwas zu groß geratenen Kopf, sich nicht um deinen lächerlichen Anblick scherte. Ich verharrte einen kurzen Augenblick neben der Informationstafel der deutschen Bahn. Links standen auf einem gelben Plakat die Abfahrtszeiten der Züge. Rechts, die Ankunftszeiten. Auf grauem Papier. Gelb für Abfahren. Grau wie ankommen.

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