Mittwoch, 25. November 2009

Kontaktladen

Ich spüre, wie ich langsam aufwache. Ich öffne die Auge, ich bin inmitten von Regalen. Links und Rechts von mir Gläser, Plastikverpackungen, Kartons, Tetrapacks. Vorne ein Fenster, vor meinem Gesicht der müde Schein einer einzelnen Straßenlaterne. Ich lasse meine Pupillen sich weiten und blicke mich um, sehe die Laterne mit steter Mühe den Schriftzug der Scheibe hinter mir an die Wand werfen, gebrochen durch meinem Schatten. Ich und die Wand teilen sich die Worte: Supermarkt.
Ich bewege meine Zehen, einen, den zweiten, öffne meine Fäuste, höre kein Hauch, kein Atmen, im fahlen Schein der Laterne bloß Verpackungen und in mir bloß ein Ruf, ein lockender, auffordernder Ruf, der sich in Schreibschrift durch die Regale schängelt: Kauf dich glücklich.
Meine Pupillen tasten durch die Dämmerung und suchen Vertrautes, suchen Markennamen, Produktbeschreibungen, Werbeslogans, Obst. Finden bloß Schreibschrift, diese Schreibschrift, die sich durch die Regale zieht, auf allen Verpackungen, handgemalt, wer gibt sich denn bloß solche Mühe?
Ein bisschen Schwung ist immer gleich, einige Worte haben sie alle gemein: Mindesthalt­barkeits­datum, lese ich, und Zutaten, das ist vertraut, das kenne ich, aber die Zeit, die Zeit hinter dem Mindesthaltbarkeitsdatum heißt eine Nacht oder zwei Monate, als wüsste der Absender nicht, dass es ein Datum ist, eben ein Datum und keine zwei Monate, als wäre der Produzent ein Kind oder Gott oder beides, als wäre er zu klein oder zu groß für Regeln. Und die Zutaten, die Zutaten sind ich oder nicht ich, sind menschlich, sind Lachen oder Begabung für Mathematik oder Treue oder Bart oder ein bepunkteter Slip.
Ich klopfe mich ab, kalter Staub rieselt herunter, ich gehe durch die Regalreihen, nehme ein Glas auf, es ist leicht, nehme einen Karton hinzu, er wiegt fast nichts, aber zusammen werde sie schwer, so schwer, dass ich eines hinstellen muss, beides kann ich nicht tragen. Drehe den Karton herum, hinten in der Schreibschrit: Nebenwirkungen. Unglück, steht da, und Appetitlosigkeit, Selbstzweifel steht auf dem Glas und Langeweile auf der Tüte daneben. Der hier, der gefällt mir, der kleine, schlichte, weiße Karton, Zutaten Idealismus, Eigensinn, ein bedrucktes T-Shirt, aber Haltbarkeit, ja die Haltbarkeit bloß ein Wochenende und die Uhr läuft rückwärts, sobald ich den Karton berühre. Die Tüte daneben, ähnliche Worte, dieselbe Schrift, Eigensinn ist kleingeschrieben und „zwei Monate“ leuchtet auf der Verpackung, aber sie ist teuer, viel zu teuer, der Preis geht über mein Herz hinaus und niemand ist da, der mir sagen kann, we viel ich investieren sollte.
Glas, denke ich, Glas ist gut weil recyclen, das geht schnell, Glas ist durchsichtig und wiederverschliebar, lässt sich nicht zerdrücken und fordert die Aufmerksamkeit mit seiner harten Kühle und Schwere, ich will ein Glas mit dicken Wänden. Beginne zu lesen, jedes einzelne Glas, halte eines in den Händen, und während ich es noch lese verändert es sich, gebiert das Etikett lauter neue Worte, wie der Himmel es tut mit den Sternen, schaut man lange genug hin, und dann, ja dann könnten die anderen Gläser ja auch und hätten und da sind so viele, so viele.
Und wie ich noch stehe und zweifle und das Glas in meiner Hand immer neue und neue Worte gebiert, tanzt sein Haltbarkeitsdatum auf dem Etikett und da verflüssigt sich mein Geld und rinnt an meinem Bein entlang, und das Tesa löst sich ab und der Ruf in mir verabschiedet sich behände und fliegt von einem Windhauch getragen durch die geschlossene Scheibe.
Meine Beine werden schwer, die Müdigkeit lässt mich einknicken, ich weiß nicht zuwenig und nicht zuviel, nur, dass ich irgendetwas falsch gemacht habe und morgen in meinem Bett aufwachen werde, der Schein der Straßenlaternen auf meinen glasleeren Regalen, und dass das falsch ist, so ganz falsch, und bevor ich die Augen schließe und der Kontaktladen mich in die Schwere des Schlafs entlässt, legt sich ein letzter Gedanke in meinen Kopf, mit Schreibschrift geschrieben:
Ich bin wohl immer noch allein.

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