Mittwoch, 25. November 2009

Hui

Gestern lief Hui zum ersten Mal ohne seinen Vater die Straße vor seinem Haus entlang. Über seiner rechten Schulter wippte in unregelmäßigen Zügen der Beutel, den sein Vater am Vorabend zurecht gepackt hatte. Seit zwei Wochen lebten sie nun schon hier draußen am Rand der Stadt, die in ihrer Größe und Erhabenheit nichts mit seiner Heimat gemeinsam hatte. Ihm fehlten die großen Türme. Die, die ihm das Gefühl einer unermüdlich wachsamen Schutzarmee gaben. 44m². Langhansstraße 9. Zum ersten Mal besaß Hui ein eigenes Zimmer. Manchmal blickte er auf die Berge seiner Raufasertapete, so lange bis er das Gefühl hat, durch sie hindurch zu dringen.
Mit dem Beutel an seiner Schultern bog er am Ende der Straße in den kleinen Park. Die Tapete schob sich zwischen seine Sicht, statt der zerfallenen Imbissbude und der Parkbank, sah er weiß. Seine Lippen formten die passenden Worte zu seinem Blick. Raufaser. Zugekleistert Arme und Beine, ließen ihn bewegungslos auf die Bank neben der Imbissbude fallen.
Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann sein Magen aufgehört hatte, sich an ihm festzubeißen. Er hat gelernt die Schmerzen zu zukleistern, nun fing er an sie zu vermissen. Du musst dich auf einen Ort einlassen und ertasten, wie er dich formt. Zu einem Teilstück macht. Sein Vater log ihn nicht an mit seinen Ratschlägen, er behandelte ihn wie einen Wegbegleiter, nicht einen Sohn.
Der Duft von frischem Zitronengras wühlte sich durch seine Nase. Auf seiner Raufaserschicht erschien seine Mutter in der Küche, die faserigen Stangen schälend. Das Wasser köchelte in einem alten Blechtopf, jeden Abend.
Der frische Duft stand in jedem Zimmer der dunklen Wohnung. Er hing in den Wänden und schäle sich von den Vorhängen, die mit jedem Windzug eine neue Nuance ins Zimmer ließen. Dort saß ihm sein Vater auf dem Fußboden gegenüber. Erklärte ihm in langen Sätzen, wie schön es in Deutschland sein wird. Wie viel Raum sie haben werden. Endlich Luft zum Atmen. Ein eigenes Auto auf der Straße. Luft in der Wohnung. Er erklärte ihm nicht, dass damit auch der Duft des faserigen Zitronengrases verschwinden würde.
Hui fragte sich, ob sein Vater sich nicht manchmal wünschte, selbst zu Luft zu werden. Hui biss sich fest in den alten Vorhängen.
Er griff in seinen Beutel auf der Parkbank den Grund ertastend. 2 Stangen hatte er noch. Behutsam zog er die äußerste Faserschicht, sich dem Kern nährend ab. Der Duft strömte durch seine Nasenhöhlen. Zum Schluss höhlte er den kernigen Innenraum aus. Nun hatte er etwas, das da ist.
Ein Loch in seiner Tapete und ein Fernrohr das zurück zu seiner Heimat führte.

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