Freitag, 20. November 2009

Klangkörper

Die Menschen laufen durch den Schacht und ich mit ihnen. Sie laufen schneller, sie laufen nach Hause, sie laufen ins Nirgendwo. Da sitzt ein Mann an die Mauer gedrückt mit seinem Akkordeon im Schoß und klagt und singt. Die Berliner bleiben schnell, unbeeindruckt laufen sie an dem Alten vorüber, schlagen vielleicht kurz einen Bogen, um nicht in sein Klagelied zu rennen, in den alten klapprigen Stuhl und die dreckige Mütze mit bronzenen Münzen. Kein guter Fang heute Nacht. Das Klackern der Absätze auf Beton hallt durch den erleuchteten Schlauch, 10-fach macht es klack, klack, klack, klack, klack, klack, klack, klack, klack, klack. Nein, tausendfach und jeder Mensch spielt einen anderen Ton und doch sind alle gleich, verschwinden in einem einzigen Klangkörper und vermischen sich mit dem Seufzen des Akkordeons. Menschenmusik im Schacht, Menschenmusik auf den Straßen, in den Städten dieser Welt und immer bleibt sie gleich, überall, wo Menschen sind.

Sie sind blass, tragen sie weiße Masken? Oder lösen sich die Masken vom morgen langsam auf, kommen jetzt die echten Menschengesichter, die gequälten? Hat der Tag sie abgewaschen? Ich mache klick und ihr macht klack, ich laufe mit euch durch diesen Schacht, aber spiele gegen euch an. Ich schaue durch die Reste der Masken hindurch und sehe euer rohes Fleisch darunter, sehe wie das Blut langsam fließt durch eure Adern. Ein Glück, ihr lebt noch. Ihr stoßt in meine Seite von rechts, von links, stoßt mit euren eilenden Armen in meinen Bauch, meine Brust. Dann seid ihr gewiss, dass ihr noch lebt. Lasst und Menschenmusik spielen, ich mache klick und ihr macht klack. Aber ihr wollt das klick nicht hören und ich verschwinde im klack-klack-klack, ich löse mich auf unter euch, unter euren Füßen. Wo wollt ihr denn hin? Da fliegt eine Taube gegen die Decke, sie hat sich verirrt und findet den Weg nicht mehr, sie möchte mit ihrem Bauch den Himmel streicheln, aber da ist kein Himmel, nur grauer Beton und sie wird müde. An der Wand klebt buntes Papier, das verspricht: Alles ist gut. Wir finden für jedes Problem eine Lösung. Wir können heilen. Wir sind Wunderheiler. Und wenn ihr uns nur Geld gebt, dann geben wir euch zu Fressen. Dann werden eure Bäuche wachsen in den Himmel und ihr werdet den Himmel streicheln mit euren voll gefressenen Wänsten. Der Mensch hat in die falsche Richtung gebaut, immer tiefer in die Erde und die Luft wird stickig und dünn. Werden wir so lange bauen bis wir ersticken?

Das Gleis der Bahn liegt vor mir, braun und rostig, dazwischen zerbrochene Kiesel, die haben gelitten mit den Jahren. Jetzt warten sie bis sie zu Staub zerfallen und der rollende Zug sie wieder ans Tageslicht spült, der Mond auf sie herunter lacht bei Nacht. Bleibt stehen, für eine Sekunde und seht mich an so wie ich euch ansehe. Bleibt stehen und spielt ein anderes Lied, ein neues Lied. Lasst uns Menschenmusik machen. Klick, klack - - - - - -. Hört auf den Alten, lauscht dem Seufzen des Akkordeons, haltet ein, nur eine Minute, eine Sekunde.

Im Schatten unter der Bank klebt ein weißes Stück und mit dem einrollenden Zug löst es sich und treibt durch die Luft, segelt über die Köpfe, vorbei an den Masken und landet zu meinen Füßen, neben ausgespucktem Kaugummi und Zigarettenstummeln. Ich bücke mich nicht, breche nicht mein Kreuz, werde nicht lesen, was da steht, klein und schwarz. Und tue es doch.

Lasst uns Menschenmusik machen, rufe ich in den Waggon, sehe die müden Augenpaare, die sich an mich heften, rufe, lasst uns spielen, Menschenmusik spielen. Reißt euch die Maskenreste vom Gesicht! Der Zug poltert aus dem Bahnhof. Er schmeißt mich von Ecke zu Ecke und es muss aussehen als tanzte ich beim Sprechen. Gut. Gut auch, dass ihr mich endlich seht. Seht mich an, ich trage euch ein Gedicht vor, breche es aus mir heraus.

Zerbrochene Kiesel der Tage
Unter den Bäumen der Nacht
Aber die Tiere des Abends irren und rufen
Arme Tiere meines länger werdenden Abends
Ich will sie streicheln
Aber sie sind scheu

Klick, klack - - - - - -

Tod und Leben schaukeln auf gleichen Schalen
Das Älterwerden ist ein Wind an der Waage
Eine müde Fliege
Die summt durch die Netze des Südens:
„Zieh deine Summe
Nutze die nutzlose Zeit

Klick, klack - - - - - -

Benetze die Zunge die dir im Mund verdorrt
Geh drei Schritt zurück und warte auf des Züngleins Wort“
Nur die unnützen Fliegen
Summen und schwirren

Klick, klack - - - - - -

Nur die Tiere des Abends rufen und irren
Unter den Bäumen der Nacht
Bei den Kieseln der Tage auf der Waage
Zwischen Leben und Tod

Hört ihr, was ich euch sagen will? Versteht ihr, ihr müden Fliegen? Wir treiben an die Oberfläche und bald schon sind die Lichter der Stadt unter uns, dem Himmel bald ganz nah. Endlich.

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