Donnerstag, 12. November 2009

Lyrische Stadtepisoden

bssssssssssss – katckerkatackerkatacker – uuuiiiiiiiiiiiiiiiiuuuiiiiiiiiiiiiiiiiiiuuuiiiiiiiiiiiiiiuu – tackertacker – bssssssssssssssss – uiiiiiiiiiiuu

Da bin ich. Meine Geburt hat nur einige Sekunden gedauert, aber ich habe schon seit Wochen gespürt, wie mein Schöpfer mit mir schwanger ging. In dieser Zeit habe ich mich oft verändert: Zunächst war ich nur ein vages Gemisch aus Eindrücken und Gefühlen, die von Zeit zu Zeit durch seinen Kopf huschten, zwischen anderen, weniger starken hindurch. Doch irgendwann bin ich ihm aufgefallen. Vielleicht hat ihn meine Signalfarbe zu verlockend angestrahlt, vielleicht konnte er auch einfach nicht länger leugnen, dass mein Beigeschmack so dominant ist, dass er hinausgespült werden muss, damit er die anderen, die genauso ihren Rang erkämpfen wollen, nicht mehr behindert. Es halt eine Weile gedauert, bis sich die einzelnen Zellen, aus denen ich als Fötus bestand und die doch alle aus derselben Grundsubstanz hervorgingen, sich zu einem Körper fügten und die Differenzierung beginnen konnte, aus der ich schlussendlich hervor wuchs. Aber nun bin ich ein Ganzes, gemacht, um in andere Köpfe zu sickern.

Über mir und unter mir liegen meine Zwillinge: flach sind sie und breit, wie ich, und schneeweiß mit schwarzem Aufdruck auf beiden Seiten. Auf dem Rücken steht eine Äußerlichkeit, aber von vorn kann man unseren Geist erkennen.

Bis zum heutigen Tag waren wir in jeglicher Hinsicht identisch. Aber nun, spüre ich, hat sich etwas verändert. Es muss passiert sein, als diese plötzliche Dunkelheit über uns hereinbrach. Der, der mich hervorbrachte, hat uns alle gepackt und in die Dunkelheit gesteckt. Es roch nach Leder dort und alles hat gewackelt. Dann hat die Geräuschkulisse begonnen, sich zu verändern, jeder Ton war wie abgedämpft und die Geräusche um uns sind keine fünf Sekunden mehr die gleichen geblieben. Am Ende wurde es ganz grell und kalt und plötzlich lag ich allein auf grünem Lederimitat, die glatten Oberflächen meiner Geschwister und der Geruch meines Schöpfers verschwunden.

Jetzt ertönt ein gedehntes, rhythmisches Quäken und ich verrutsche ein wenig, als das Lederimitat beginnt, sich in Bewegung zu setzen. Als es anhält, rutsche ich zurück. Nun kommen mehrere Luftzüge hintereinander, die mich ein wenig aufflattern lassen. Dann wird es wieder dunkel und ich spüre rauen, geriffelten Baumwollstoff auf mir, nur das gedämpfte Signal und leichtes, gleichmäßiges Ruckeln lassen mich ahnen, dass das Ding, wir wieder fahren. Einige Zeit, nachdem die Jeans sich entfernt hat, tritt mein großer Moment ein: Jemand nimmt mich hoch und legt müde Augen auf mich, erst auf den Rücken, dann auf meine Vorderseite. Die Augen gehören einem Mann mit grünen Latzhosen. Seine Hände sind rau von der Arbeit und sobald er meine ersten Zeilen überflogen hat, bildet sich eine kleine Falte auf seiner Stirn. Er beginnt von vorn:

> Ich liebe dich bei Nebel und bei Nacht,

wenn deine Linien ineinanderschwimmen, –

zumal bei Nacht, wenn deine Fenster glimmen

und Menschheit dein Gestein lebendig macht.

Was wüst bei Tag, wird rätselvoll im Dunkel;

wie Seelenburgen stehn sie mystisch da,

die Häuserreihn mit ihrem Lichtgefunkel;

und Einheit ahnt, wer sonst nur Vielheit sah.

Der letzte Glanz erlischt in blinden Scheiben;

in feine Schachteln liegt ein Spiel geräumt;

gebändigt ruht ein ungestümes Treiben,

und heilig wird, was so voll Schicksal träumt. <

Die Falten auf seiner Stirn sind mit jedem Vers tiefer geworden. Jetzt schüttelt er den Kopf, dreht mich noch einmal um, zuckt mit den Achseln und legt mich zurück auf die Bank.

> So ein Quatsch! Wer das hier nur liegen gelassen hat? <, denkt er und steigt aus. Aber ich spüre es, bevor er noch den Fuß auf den Bahnsteig gesetzt hat: Ich bin in seinem Kopf!

Während er weiterläuft, verfolge ich seine Gedanken. Sie sind ein buntes Flimmern aus dem Fußballspiel, das er sich gestern im Fernsehen angeschaut hat, den Bestellungen, die er heute für seine Klempnerei aufgeben muss und mir, aus der Schlagzeile über den krebskranken Schlagersänger, die er im Vorübergehen am Kiosk aufgeschnappt hat und mir, seiner Tochter, die nächste Woche diesen Blödmann heiraten will, der Hippie-Frisur des Blödmanns und da bin ich wieder:

> Dem Blödmann hätte das Gedicht bestimmt gefallen. Der ist ja auch so ein Taugenichts, der die Nacht nur kennt von seinen Kneipentouren. Der weiß nicht, dass für anständige Leute leere Straßen und Dunkelheit bedeuten, dass es fünf in der Früh ist und sie zur Arbeit müssen. Und das auch noch bei dieser Hundskälte. Heilig!, dass ich nicht lache. Mein Schlaf ist mir heilig, wenn’s so dunkel ist! Dieser Marcel-Blödmann hat vermutlich... <

Ich hätte gern weiter zugehört, wie er sich in Rage denkt. Vermutlich hätte er das spätestens am Hochzeitstag einen Grund dazu gefunden, aber mir gefällt das Gefühl, etwas in ihm ausgelöst zu haben. In diesem Moment jedoch wischt mich eine neue Hand auf den Boden, ein Fuß schlittert über mich hinweg und ich flattere hoch in die Luft.

„Ey du Spast, bist du behindert?“

Der Junge, der an dem Fuß hängt, der eben auf mir ausgerutscht ist, rappelt sich umständlich wieder hoch und lässt sich auf eine der Bänke fallen.

„Deine Mutter!“, schnappt er nach dem Jungen, der ihm gegenübersitzt und sich scheckig lacht über die Ungeschicklichkeit seines Freundes. An der Seite seiner tief sitzenden weißen Hose und an seinen blauen Sneakers hat der Sturz braungraue Streifen hinterlassen.

„Was’n dis für’n Scheiß?“, fragt der erste und hebt mich auf. Seine Augen bleiben an den ersten Worten hängen. „Isch liiiiebe disch. Haha, ey Spasti, der Zettel liebt disch, Alta!“

„Hä? Deine Mutter!“, sagt der Junge in den weißen Hosen wieder. Er ist immer noch ein wenig rot, wittert aber die Chance, die Aufmerksamkeit von seiner peinlichen Lage zu lenken und reißt mich seinem Freund aus der Hand. „Ey, Nicole, hier, dis hat Ayhan für disch geschrieben.“ Er drückt mich einem blonden Mädchen in die Hand, das ein mattrosa Lipgloss trägt, dessen zuckerwattiger Duft mich umwölkt, sobald sie mich vor ihre dunkel umrandeten Augen hält.

„Was’n dis für’n Scheiß?“, fragt sie und blinzelt abwechselnd Ayhan und die weiße Hose an. Sie lächelt, um ihre Unsicherheit zu überspielen und tut so, als würde sie das Blatt auf die andere Seite des Sitzes legen. Doch als ihre Freunde sich abwenden, überfliegt sie mich unauffällig und ich spüre, wie mit jedem weiteren Vers ihre Enttäuschung wächst: > Geht gar nicht um mich. Hat er gar nicht geschrieben. Idioten. Sowas kann der eh nicht. Wenn er nur... <>

Als sie den Waggon verlässt, hält mich das Mädchen immer noch in der Hand, und ich freue mich darauf, in neuen Kontexten gelesen zu werden. Allerdings wäre es mir lieber, wenn sie mich bald wegschmisse, denn ich könnte ihr vermutlich nicht mehr weiterhelfen, jedes Lesen würde nur wieder die Erinnerung an die morgendlichen Ereignisse in der U-Bahn wachrufen. Eigentlich hat sie auch schon fast vergessen, dass es mich gibt. Erst als sie sich vor dem Schultor eine Zigarette anzünden will, bemerkt sie, dass ihre rechte Hand nicht leer ist. Ich hatte recht: > Scheiß Gedicht! <, denkt sie als sie nur das Papier, auf dem ich stehe, wieder bewusst wahrnimmt. Ich bin wieder frei und segle gemächlich auf das Pflaster, das die ersten Strahlen der Morgensonne schon ein wenig angewärmt haben.

Eine Glocke schrillt und der Boden bebt ein wenig von den Schritten der Jugendlichen, die nun zwischen zwei hoch aufstrebenden, alt-ehrwürdig quietschenden Türflügeln verschwinden. Einige Minuten später ertönt die Klingel erneut und ein Herr Mitte 40 in Blue Jeans, kariertem Hemd und Cordjackett streckt den Kopf aus dem Eingang. Prüfend lässt seinen Blick über den Bürgersteig schweifen – einmal die gegenüberliegende Straßenseite, dann der Gehweg vor der Schule und erst, als er sich überzeugt hat, dass auch hinter der Tür, im Bereich außerhalb seines Sichtfelds, keine Zuspätkommer sich verschanzt haben, um noch schnell eine zu rauchen, bemerkt er, dass ich mich zu seinen Füßen sonne. Er sieht, dass ich ein Gedicht bin und Erstaunen breitet sich aus auf seinem gutmütigen, etwas fahlen Gesicht. Jeden meiner Verse saugt er ein wie ein Rätsel, windet und wiegt ihn in Gedanken, immer auf der Suche nach Hinweisen, die den Strom von Fragen, der ihm bei meinem Anblick durch den Sinn gerauscht ist, beantworten könnten.

Die wichtigste: > Wer hat das hier verloren? <> Vielleicht ein Kollege? Ein Passant? Oder sogar ein Schüler? <> Vielleicht wollte es ja jemand noch einmal lesen vor dem Unterricht, weil es ihm so gut gefallen hat und es ist ihm aus der Jackentasche gefallen. <> Worum geht es überhaupt in diesem Gedicht? <

Versmaß, Reimschema und die Tatsache, dass die ersten drei Worte wohl die effektivsten sind, wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit des Lesers zu bannen, erfassen seine Adleraugen binnen Sekunden. Er vollzieht den Weg von der Straße in die Seele der Stadt nach, denkt dabei an Früher, als er oft ähnliche Gedanken hatte, wenn er allein durch die Straße schweifte, um nachzudenken. > Damals ... <, seufzt er ein wenig wehmütig und starrt mich an wie ein Reliquium. > Warum mache ich das eigentlich nicht mehr? Warum gehe ich nicht mehr nachts durch die Straßen zum Nachdenken? Das hat doch immer Wunder gewirkt, wenn ich nicht weiter gekommen bin, wenn ... ich mich so gefühlt habe wie jetzt. Das Gedicht hat Recht: Es ist schön, bei Nacht die Menschlichkeit dieser Stadt zu spüren, zu beobachten, wie plötzlich alles ganz einheitlich wird, als würde es in ein und demselben ruhigen Rhythmus atmen. <> Aber das müssen die Schüler doch auch kennen: Die Stadt bei Nacht. Schließlich ziehen die meisten von ihnen doch das ganze Wochenende hindurch zwischen den Kneipen und Discos hin und her. Kein Wunder, dass das Gedicht einem von ihnen so gut gefallen hat, dass er ihn vor dem Unterricht noch einmal lesen wollte. Es holt ihn schließlich genau dort ab, wo man in diesem Alter steht. <, denkt der Lehrer erfreut und beschließt, dass es sich um einen jungen Text handelt. Außerdem sind Versmaß und Reimschema gut erfassbar – was er ja schon auf den ersten Blick festgestellt hatte – und es kommen einige interessante literarische Mittel vor. Er nimmt sich fest vor, mich im Unterricht durchzunehmen. Dann löst er sich vom Türrahmen, nästelt abwesend an seinem Cordjackett und ist zu abgelenkt um zu bemerken, dass er nur meine linke untere Ecke in seine Tasche gesteckt hat. Wie vor einer halben Stunde flattere ich hinab auf das Pflaster und werde noch ein Stück weiter in die Mitte des Bürgersteigs befördert von dem Zug der Flügeltür, die nun mit einem dumpfen Schlag zufällt.

Die nächsten Hände, die mich vom Boden klauben sind wieder rauer als die der Jugendlichen und des Lehrers. Ihre knotigen Knochen, über die sich dünne, äderige Haut spannt, interessieren sich nicht im Geringsten für mein Wesen, das spüre ich sofort. Bevor sie mich zu einer kleinen Kugel knüllen, zieht ein vages Bild von silbergrauen Locken, bunt geblümtem Kittelschürzenstoff und einem gebeugten Rücken an mir vorüber. Dann wird fliege ich durch ein Halbdunkel aus einem ätzenden Gemisch von verschiedensten alten Gerüchen. Durch den Dunst höre ich noch metallen gedämpfte Wortfetzen der alten Frau: „Unmöglich ... einfach auf die Erde ... diese unverschämten ...“ Dann ist auch sie fort.

Ich bin auf etwas weichem, feuchtem gelandet. Es ist unangenehm. Hoffentlich werde ich nicht zu lang hier liegen gelassen, sonst verschwimmt meine Farbe oder das Papier zerfällt. Sekunden vergehen, werden zu Minuten, mehr Minuten, vielleicht Stunden? Ich kann nicht mehr sagen, wie lang ich schon hier liege und warte, wieder gelesen zu werden. Jetzt wäre ich gern altgriechische Schriftrolle in einem archäologischen Archiv. Dann würde ich zwar auch in unbekannten Dunkelheiten vor mich hin dämmern, aber immerhin hätte ich das Schlimmste schon hinter mir und bräuchte keinen baldigen Zerfall mehr fürchten. Um meinen Inhalt bräuchte ich mich dann auch nicht mehr zu sorgen, da meine Transkriptionen vermutlich bereits so häufig gelesen worden wären, dass jedes Kind zumindest mit meinem Namen oder dem meines Schöpfers etwas anfangen könnte. Hoffentlich sind meine Geschwister in umsichtigere Hände gelangt. Sonst wäre alles vergebens gewesen und dabei bin ich, wenn ich das einmal sagen darf, doch ein sehr runder, eingängiger Text. Vielleicht nicht jedermanns Fall, aber doch für jeden, der mich zur Kenntnis nimmt, wenn ich seinen Weg kreuze, etwas.

Von Zeit zu Zeit erklingen wieder metallische Stimmen draußen. Manchmal sind es Passanten und in Regelmäßigen Abständen Schüler, die nach dem gedämpften Läuten der Pausenglocke aus dem Gebäude flüchten. Hinter mir herrscht das beständige hüstelnde Brummen von Autos, die über Kopfsteinpflaster rumpeln.

Nach und nach verschwindet das spärliche, rote Licht, das anfangs noch aus der ovalen Öffnung über mir herab geschienen hat und die vorüber ziehenden Stimmen und Autogeräusche werden seltener. Ich bin mittlerweile fürchterlich klamm und beginne schon zu frieren, als sich schlurfende Schritte nähern, begleitet von leisem, unverständlichem Murmeln. Eine rotgeschundene, schmutzverkrustete Hand erscheint in der Öffnung des Mülleimers, gefolgt von einem trüben Auge. Zu meiner Verwunderung werde ich gegriffen und in eine Jackentasche gesteckt, durch deren Löcher die frische Nachtluft zieht. Die Hand wühlt weiter, Flaschen klirren, Alufolie streift quietschen an der Wand des Mülleimers entlang und Papier raschelt, doch der Penner scheint nichts mehr zu finden und setzt schwankend und schlurfend seinen Weg fort. Der Gestank in seiner Tasche ist schlimmer als der zwischen den Essensresten und kalten Kippen und wärmer ist es hier auch nicht. Fast wünsche ich mich in den Abfall zurück. Was er wohl mit mir vorhat?

Wir halten an und plumpsen ohne viel Federlesen irgendwo auf den Boden. Der Penner zieht mich aus seiner Jacke, glättet mich, knickt mich in der Mitte und legt mich mit dem Rücken nach oben auf sein Knie. Ein braunes, weiches Knäuel landet auf mir. Er nimmt mich hoch und beginnt, mich um den Tabak zu drehen, doch mit einem Mal hält er inne. Er steckt den Tabak in die Tasche, aus der er mich gezogen hat, glättet mich hastig mit einem Erstaunen im Blick, das ihn plötzlich viel lebendiger scheinen lässt, und beginnt zu lesen ...

... liest mich einmal, dann von vorn und auch noch ein drittes Mal. Erst bleiben seine Gedanken hängen an den Worten, die ihm besonders gut gefallen: Fenster glimmen und feine Schachteln, am liebsten mag er die Seelenburgen. Außerdem findet er es schön und sehr passend für ein Stadtgedicht, dass große Begriffe wie Ich liebe dich, mystisch oder Schicksal direkt neben den alltäglichen Häuserreihen, Fenstern und dem ungestümen Treiben stehen. Er legt sich hin, in Gedanken ganz bei mir. Die Worte tragen ihn fort in seine Vergangenheit, erinnern ihn daran, wie er als junger Mann in die Stadt kam und zunächst nur dieses verlockende Ineinanderschwimmen der Linien gesehen hatte und die Lebendigkeit des menschengefluteten Gesteins, wie das ungestüme Treiben ihn irgendwann mitgerissen hatte und er Teil des Schicksals geworden war und wo es ihn schließlich hingetrieben hatte.

> Heute bin ich der, der die Fenster ewig hell und dunkel werden sieht. <, denkt er traurig. > Aber die Nacht und den Nebel liebe ich immer noch. <

Eine Weile schiebt und wälzt und wendet der Mann mich und die Dinge, die ich ihm auf den ersten Blick gesagt hat, im Kopf umher. Dann spüre ich, wie seine Gedanken leiser werden und bruchstückhaft. Schließlich gähnt herzhaft, steckt mich in die linke Innentasche seiner Jacke und schläft ein. Langsam wird mir wärmer.

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