Donnerstag, 12. November 2009

Lob der Ferne

Einmal fuhr ich im Bus in Buenos Aires und jemand legte mir etwas in den Schoß.
Einmal fuhr ich im Bus ohne Klimaanlage und es war laut und heiß, und der Sitz vor mir
klopfte gegen meine Kniescheibe, als wollte er mich vertreiben. Durch die offene Scheibe
drängten sich fremde Gerüche in meine Nase. Es war kein guter Tag, nein, es war kein
guter Tag und ich dachte, es war kein gutes Land, kein gutes Land in dem man seinen
Geschäftspartner nicht versteht und der Dolmetscher so viel weniger Sätze sagt als der
Partner. Der Dolmetscher dem Partner immer wieder verschmitzt zulächelt und dann die
Schultern zuckt, auf die Frage, was er noch gesagt hat, was der Mann mit den schwarzen
Haaren noch gesagt hat zu meinem Vorschlag. Bloß antwortet: „Spanisch ist nicht
ökonomisch.“
Es ist kein gutes Land, in dem sie sagen: „Wir müssen über Ihr Angebot nachdenken.“
Dann lächeln und sitzen bleiben, während man sich selbst unbeholfen erhebt, seine
Rechnung zahlt und fleisch-und pommesschwer aus dem Restaurant tritt in eine
feindselige Hitze. Sich aus Trotz in den Bus setzt, weil man im unguten Gefühl, gerade
etwas in eine schwammige Fremde verloren zu haben, nicht noch mehr verlieren will, kein
Geld an einen Taxifahrer, bloß dreißig Cent an den Bus.
Und dann kam ein fremder Mann und legte mir ein buntes Zettelchen in den Schoß, und
ich dachte „Sie wollen, immer wollen sie“, und hörte den Mann laut und erhitzt reden und
blickte hochmütig aus dem Fenster. Der Fahrtwind nahm den Zettel mit und warf ihn auf
den Gang, als gehörte er dort hin. Ich dachte „soll er, der wertlose Zettel, soll er doch
liegen im Schmutz“, aber der Zettel wehrte sich gegen den Schmutz und flog weiter, und
der Besitzer des Zettels fluchte und rannte ihm nach, rannte durch den Bus dem Zettel
hinterher. An der nächsten Haltestelle stieg er aus, nachdem er alle Zettel von den
Schößen nahm und keinen Blick bekam und kein Geld. Der Mann stieg aus und warf mir
einen Blick zu, einen Blick voll gebrochener Würde. Und viel später habe ich verstanden,
dass er Lose verkaufte, dass der bunte Zettel auf meinem Schoß ein Los war und damit
wertvoll, viel Geld für einen Mann, der davon lebt, und wenn er ein Los verliert, verliert er
die Einnahmen von einer Stunde und ein Los gehört nicht auf den Boden, nicht auf den
schmutzigen Boden des Busses.
Die argentinische Firma rief mich nie an, nie an oder zurück, und wenn ich an Buenos
Aires dachte, dachte ich an den Blick des Losverkäufers, und wenn das Telefon dann alles
tat außer klingeln, dann dachte ich, denke noch, das habe ich irgendwie verdient.
Der Bus in Berlin ist laut, innerlich laut und stickig denn er hat eine Klimaanlage, und die
Menschen blicken einander an, als sähen sie Steine und keine Menschen, als wäre das
Leben nichts weiter als Mauer. Und dazwischen sitze ich, nun, und der Sitz vor mir klopft
an meine Knie und erinnert mich so, dass ich hier nicht hingehöre, dass mein Leben weit
weg ist aber meine Arbeit eben hier. Und nur wer denkt, die Arbeit wäre sein Leben, der
muss wohl ertragen, dass heimatfremde Sitze an seine Knie pochen. Das denke ich also
und der Sitz pocht. Und auf einmal legt jemand einen gefalteten Zettel in meinen Schoß:
Eine junge Frau, die blickt, in das Gesicht und nicht die Steingesichter, eine junge Frau mit
langen Haaren, die auf einmal fest in das Gesicht blickt und ich fühle mich ertappt, als
hätte mich jemand Fremdes beim Schlafen überrascht. Ich schaue mich um, den langen
Haaren hinterher, wie sie zwei weitere Zettel verteilen, ich such die Augen der Mitfahrer
und sehe den ertappten Blick und dann ein Blick auf den Zettel und dann wieder
Backsteine. Ich warte auf das Mädchen, darauf, dass es die Zettel wieder einsammelt,
aber an der nächsten Haltestelle steigt sie einfach aus, schüttelt ihre Haare und die
Blickbegegnungen ab. Mich hat sie zurückgelassen mit einem fremden Zettel, der
vielleicht etwas wert ist, und einer Erinnerung an den gebrochenen Blick der
Losverkäufers.
Öffnen, lesen, Zeilen, Gedicht. Schulunterricht, das Gefühl, etwas nicht zu begreifen, der
Sitz pocht gegen mein Knie.
„Lob der Ferne“ heißt es, Lob der Ferne und dann aneinander gerreihte Worte, die irgend
jemandem Sinn ergeben und ein paar Menschen in der Welt glauben machen, sie gäben
ihnen Sinn und damit sie gäben ihnen etwas. Ich kann Gedichte nicht leiden, konnte ich
nie, ich will am Ende von Reihen ein Ergebnis und fühle mich falsch, wenn ich es nicht
habe, ich fühle mich dann betrogen und leer und will eine Zahl, oder zwei, die ich dann
addieren kann und dann habe ich wieder Fülle in mir.
Ich blicke mich um und sehe meine Mitfahrer die Zettel zerknüllen, Backsteingesichter,
und sehe meine Hände den Zettel streicheln, die Ferne streicheln und das Meer und den
Fischer und Bilder gibt es in mir, von denen weiß ich nicht einmal, ob es meine sind, oder
die eines elektronischen Apparates. Fischerboote und Wellen und Wasser und der
gebrochene Blick des Losverkäufers und ich mit meiner Leere, die mir eine Frau mit
langen Haaren einfach so aufdrängte. Die ich in mich ließ aus Angst vor einem
gebrochenen Blick, so wie ich Bus fahre, aus Angst vor einem gebrochenen Leben der
Bus von der Arbeit nach Hause, den ich mir leisten kann, weil mein Leben gebrochen ist,
zerbrochen in Bus und Arbeit und Heimat in der Ferne, die irgendjemand lobt.
Als ich jünger war, hätte ich ihr geholfen, die Zettel zu verteilen. Damals zählte die Zeit
nicht so viel, wog nicht schwer, wog nicht münzschwer nach Stundenlohn. Als ich jung
war, tat ich Dinge wie diese und dachte, Heimat ist der am wenigste wertvollste meine
Schätze, und der wertvollste meine Intelligenz, die mich weit weg bringen würde,
irgendwohin. Lob der Ferne. Los der Ferne. Als ich jung war, hatte ich Angst, dass ich mal
enden würde als Losverkäufer in unserem Dorf. Und nun sitze ich im Bus in der
Hauptstadt, fern von meinem Dorf und verkaufe mich und die Knie pochen gegen den Sitz
und ich breche die Würde ausländischer Losverkäufer und jemand bricht mich, indem er
die Ferne lobt.
Plötzlich wünsche ich mir das Meer und einen Klappstuhl, bloß mich und das Meer und
einen Klappstuhl und Sicht auf Fischerboote, einen unmittelbaren Blick, erster Hand, und
in der Hand ein Getränk und in den Ohren das Salz der Luft, das sich dort sammelt, bis ich
nichts mehr höre, und taub will ich weiter sitzen und nichts tun außer darauf zu warten,
dass der Klimawandel mich irgendwann ertränkt.
An der nächsten Haltestelle werde ich aussteigen und den Zettel jemandem in die Hand
drücken. Der Sitz tut mir weh genug, ich fühle die Leere in mir und aufschwappenden
Trotz. Wenn ich den Zettel weiter gebe, ist es eins plus eins und damit eine Kette und eine
Zahl und ein Ergebnis, also los. Ich drücke den Zettel eine Frau mit langen Haaren in die
Hand, um es kreisrund zu machen. Ich rolle die Rolltreppe hoch, und hinter mir ruft es
„hey!“, das Los. Ich drehe mich um und sehe in große Augen, fragende Augen auf
Kinnhöhe, und die Frau reibt ihr Knie und sagt: „Das ist schön, hast du das geschrieben?“,
und ich spüre fern, fern unter meinem Trotz und der Erschöpfung des Tages auf einmal
ein wenig Hoffnung, verschüttet, aber da. Ich will auch mein Knie reiben, das täte ihm gut,
oder ihres, das täte mir gut, irgendwo, ja, vielleicht möchte ich ja ihr Knie reiben und
wusste es bis gerade nicht, weil ich so vieles nicht weiß, und so sage ich: „Ja, das habe
ich geschrieben, gestern.“

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